: Autonom unterm Hirschgeweih
■ Das „Autonomen-Nest“ Sielwallhaus von innen: Fotokurs und Gemeinschaftsessen
Ein Hirschkopf aus Plastik glotzt von der Wand, darunter gelbe Plüschsessel, anheimelnd beleuchtet von einer Stehlampe mit Troddeln. In diesem Ambiente schaufeln dienstags und freitags jeweils rund 50 junge BremerInnen ihren Gemüseauflauf in sich hinein. Dann hat das Volxküchenteam im Sielwallhaus aufgekocht – selbstverständlich vegetarisch. Hier, im großen Erdgeschoßsaal, schlürften junge Leute am 2. Oktober ihren Kaffee, als dick gepanzerte Polizisten reinstürmten. „Die müssen geglaubt haben, hier seien alle bewaffnet“, sagt kopfschüttelnd Karl-Heinz Kunde (45), genannt „Kuddel“. Er hat den Jugendtreff 1982 mit aufgebaut.
Für sein Kopfschütteln hat die Polizei kein Verständnis: Seit Jahren sei das Sielwallhaus als der Haupttreffpunkt für gewaltbereite Autonome bekannt, teilte das Polizeipräsidium gestern mit. „Nach Einschätzung des Staatsschutzes (ist es) Ausgangspunkt für alle unfriedlichen Demonstrationen der vergangenen Jahre in Bremen.“
Natürlich ist das Haus Treffpunkt für alle möglichen Gruppen, sagt Karl-Heinz Kunde, Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins „Jugendinitiative Sielwallhaus“. Vor zwei Jahren etwa hat man das Antirassismus-Büro aufgenommen; eine Zeitungsgruppe bringt die politische Stadtzeitung „Kassiber“ heraus; desweiteren treffen sich in den Räumen im zweiten Stock die Libertäre Männergruppe, die autonome Frauengruppe Zap (Zora-Anna-Pippi), die schwullesbische Gruppe Suspekt, zwei StudentInnengruppen, die Gruppe „Kritik an den Autonomen“... Abgelehnt wurde bislang nur die PKK.
Vor allem aber macht die Jugendinitiative Sielwallhaus Jugendarbeit, selbstverwaltet und ohne einen einzigen Sozialpädagogen. Ein Haus-Rat entscheidet über Angebote: besonders beliebt sind Fotokurse und Siebdruckkurse, in denen man zum Beispiel T-Shirts bedrucken kann. KursleiterInnen arbeiten ehrenamtlich. NutzerInnen des Sielwallhauses sind vornehmlich junge Leute um die 20, mehrheitlich GymnasialschülerInnen, schätzt Kunde.
Im letzten Jahr bekam die Initiative 23.000 Mark vom Amt für Soziale Dienste, und zwar aus dem „Jugendclub-Topf“. Das Haus erfüllte schließlich alle Bedingungen der „Richtlinien zur Förderung der außerschulischen Jugendbildung“, sagt Dr. Michael Schwarz, Referent für Jugendliche beim Sozialsenator: ein Club muß danach für alle offen stehen, und es muß im Wohnbereich einen Bedarf dafür geben. Für Seminare über Antifaschismus oder Atompolitik sowie für den Austausch etwa mit baskischen Jugendlichen gibt es Geld aus verschiedenen kleineren Töpfen, im Jahr etwa 4.000 Mark.
Große Sprünge kann die Jugendinitiative Sielwallhaus damit nicht machen: Rund 20.00 Mark der staatlichen 24.000 Mark gingen im vergangenen Jahr für Miete, Wasser, Heizung, Strom, Büro und vor allem Reparaturen drauf. Ein bißchen Spielraum verschafft man sich über die maximal 4.000 Mark Getränkeeinnahmen. Umso bitterer die Zerstörungen, die beim Polizeieinsatz am 2.Oktober entstanden: 7.000 Mark bräuchte man, so Kunde, um Fenster, Türen und elektrische Leitungen zu reparieren.
Wenig Geld, dafür viel Platz für Diskussionen – so sieht das Konzept aus. Und diskutiert wird jetzt besonders intensiv: Warum eskalierte die Situation am 3.Oktober? Warum hat man sich so in die Ecke treiben lassen, daß es gar nicht mehr um Inhalte und Argumente gehen konnte? Auseinandersetzungen hat es schon nach der Krawallnacht im Juli gegeben, als neben Comet auch ein kleiner Juwelierladen zu Bruch gegangen war. „Sicher“, sagt Kunde, „man kann sich hier auch gegenseitig hochschaukeln, aber es wird dann weiterdiskutiert.“ Es sei nämlich keineswegs so, daß drei Leute die Meinung vorgeben und der Rest schweigt.
Eben diese Diskussionsforen freuen auch Dr. Michael Göbel, den Jugendreferenten der Senatorin: „Das ist ein Verband, mit dem sich Jugendliche, die außerordentlich kritisch dem Staat gegenüberstehen, ansprechen lassen. Und das ist wichtig. Wir wissen, daß das Sielwallhaus bestimmte Jugendszenen erreicht – und genaus das macht seine Förderungswürdigkeit aus.“ Man sehe derzeit keinerlei Anlaß, der Jugendinitiative die Anerkennung als Jugendverband zu entziehen. Christine Holch
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen