: Gut(achter)gläubigkeit
■ Eine Aufsatzsammlung über die „käufliche Wissenschaft“ zeigt, wie Politik und Justiz den Experten auf den Leim gehen
Ginge es zwischen den beiden Deckeln dieses Buches tatsächlich nur um den Nachweis, daß Wissenschaftler wie andere Menschen auch käuflich sind, man könnte das schwarze Bändchen getrost zur Seite legen. Aber die Aufsätze, Essays und Interviews bieten weit mehr als jene Volksweisheit des „Wes Brot ich ess', des Lied ich sing'“. Sie versuchen zu klären, warum zwielichtige Experten trotz aller gesellschaftlichen Skepsis gegenüber dem Wissenschaftsbetrieb nach wie vor reüssieren können. Kernthese: Gerade die wissenschaftlich vorgebildeten Entscheidungsträger in Staat und Justiz sind für den Expertenmythos besonders anfällig. Wenn der Wissenschaftler redet, schalten sie ihren Verstand ab.
Die sechzehn AutorInnen des Sammelbandes haben zunächst zusammengetragen, warum es einen Unterschied macht, ob Liese Müller käuflich ist oder ob ein ehemaliger Präsident der Gesellschaft für Arbeitsmedizin Gefälligkeitsgutachten für Chemiekonzerne schreibt. Zum Beispiel: weil vielen Arbeitnehmern ihre Berufskrankheiten nicht anerkannt werden, nachdem medizinische Gutachter im Auftrag der Berufsgenossenschaft den Zusammenhang zwischen Arbeit und Arbeitsumfeld und der Krankheit bestritten haben.
Der Kieler Toxikologieprofessor Otmar Wassermann stochert auf fünfzig Seiten in der Geschichte solcher falsch begutachteter Chemieskandale herum. Seinem Kollegen Gerhard Triebig aus Heidelberg wirft er Verharmlosung vor. Erkrankungen, die in anderen Ländern ohne Umschweife auf Umweltbelastungen am Arbeitsplatz zurückgeführt werden, erkenne Triebig häufig nicht als solche an. Für ihn seien seine deutschen Patienten wohl per se resistenter gegen Lösemittel. Vielleicht hat Fließbandgutachter Triebig aber auch nicht so genau hingeguckt. Bei 1.260 Gutachten allein in den Jahren 1990 und 1991 kann das passieren. Und Wassermann zeigt: Triebig ist kein Einzelfall. Gerhard Lehnert (Spitzname Ablehnert), ehemals Chef des Hamburger Instituts für Arbeitsmedizin, habe jahrelang den Betrieb der Boehringer-Dioxinklitsche in Hamburg gedeckt.
Die Skepsis betroffener Bürger ändert am Einfluß solcher Gutachter zunächst wenig. Die Autoren demonstrieren, daß gerade der Staatsapparat und die Justiz besonders anfällig für Experten sind. Käuflichen Experten wird viel Spielraum gelassen. Wieso wird gerade die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA), die zur Förderung der Atomkraft gegründet worden ist und erklärtermaßen „die Anwendung von Strahlung und Isotopen“ fördern will, beauftragt, die Folgen von Tschernobyl zu untersuchen? Und wieso beruft die CDU-Bundestagsfraktion einen Daimler-Manager als Verkehrsexperten in die Klima- Enquetekommission?
Helmuth Müller-Mohnssen, emeritierter Professor aus München, vermutet in seinem Aufsatz, der Mythos der unabhängigen Wissenschaft bestehe weiter, weil Wissenschaftler lange Zeit in der Bundesrepublik tatsächlich relativ unabhängig waren und sich dies im kollektiven Gedächtnis von Behörden und Justiz festsetzte. Doch nach dem Rückzug des Staates aus der Finanzierung der Hochschulforschung und durch die Zunahme der Drittmittelforschung mit Industriegeldern sei diese Unabhängigkeit gefährdet. „Wer zahlt, kann seine Interessen durchsetzen – und dies im Namen eines staatlichen Instituts.“ In der Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung, Müller-Mohnssens ehemaligem Arbeitgeber, werden heute im Dutzend Gutachten für die Genehmigung von Müllverbrennungsanlagen gefertigt. Zahlen können die Verursacher aus der Industrie allemal besser als die geschädigten Bürger.
Auch Erich Schöndorf, Staatsanwalt in Frankfurt, räumt die Bedeutung finanzieller Abhängigkeiten für das Gutachterunwesen vor Gericht ein. Wissenschaftler seien schließlich langfristig auf das Wohlwollen ihrer Geldgeber angewiesen. Das zentrale Problem sieht Schöndorf aber in der Autoritätshörigkeit der deutschen Justiz. Die Robenträger hätten einen regelrechten Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Weißkitteln. Einen Komplex, der häufig noch aus Schultagen stammt und nicht aufgearbeitet ist. Damals hätten die guten Schüler halt Physik und die mäßigen Juristerei studiert.
Schöndorfs These: Juristen fühlen sich zu dumm, um den Experten wirklich auf den Zahn zu fühlen. So bekämen auch unsinnige Gutachten unterderhand Beweiskraft. „Die Dominanz der Sachverständigen über die Justiz hat mindestens soviel mit fehlendem Selbstbewußtsein der Richter zu tun wie mit fehlender Kenntnis naturwissenschaftlicher Zusammenhänge.“ Also demnächst Grundvorlesung Chemie für Juristen und Supervisionsseminare für Richter? Hermann-Josef Tenhagen
Antje Bultmann/Friedemann Schmithals (Hrsg.): „Käufliche Wissenschaft“. Knaur-TB, München 1994, 16,90 DM
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