: Panik zwischen Potsdam und Plauen
16 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung leiden unter schweren Angsterkrankungen ■ Von Hannes Koch
Bereits während der letzten DDR-Jahre stellten sich bei dem Bauingenieur aus Leipzig von Zeit zu Zeit starke Angstgefühle ein. Sein Herz raste, und er meinte, sterben zu müssen, obwohl die ÄrtzInnen keine körperlichen Gebrechen feststellen konnten. Nach der Vereinigung wurden der Arbeitsplatz unsicherer und dank Wettbewerb das Produktionstempo größer. Die Angst des Ingenieurs vor Öffentlichkeit und Begegnung mit anderen Menschen nahm jetzt ebenfalls zu, und er reagierte zunehmend mit Vermeidungsverhalten: Er traute sich nicht mehr, einkaufen zu gehen und Auto zu fahren, was für seine leitende Position in der Baufirma gefährlich wurde. An diesem Punkt begab er sich in Behandlung bei Professor Jürgen Margraf, Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie an der Technischen Universität Dresden.
Margraf stellte am vergangenen Donnerstag in Dresden die erste Untersuchung mit Anspruch auf Repräsentativität über Angstkrankheiten in Ostdeutschland vor. Danach leiden in den neuen Bundesländern 16 Prozent der Bevölkerung an Angstsymptomen, die „ein behandlungsbedürftiges Ausmaß erreicht haben“. In der alten Bundesrepublik sind es nur sieben Prozent. In beiden Teilen Deutschlands sind Frauen doppelt so häufig betroffen wie Männer.
Die 16 Prozent in Ostdeutschland stuft Margraf „als wesentlich anderes Ergebnis“ ein, als es in, allerdings begrenzteren, Untersuchungen kurz nach der Vereinigung ermittelt wurde.
100 Prozent Steigerung
Unlängst erst haben WissenschaftlerInnen des Münchner Max- Planck-Instituts für Psychiatrie und Klinische Psychologie darauf hingewiesen, daß in den Jahren 1990 bis 1992 keine Belege für eine „höhere psychiatrische Morbidität“ in Ostdeutschland vorlagen. Demgegenüber zeigt die Dresdener Untersuchung nun ein starkes Ost-West-Gefälle: Sowohl im Vergleich zur alten BRD als auch zu den ersten Nach-Wende-Jahren hat sich die Häufigkeit von Angstsymptomen in Ostdeutschland verdoppelt. Die von Jürgen Margraf beauftragten Meinungsforschungsinstitute befragten im Westen 1.939, im Osten 1.009 Personen, die sie aus den Melderegistern der Gemeinden auswählten. Den Probanden wurde unter anderem eine Liste mit 21 Symptomen für Angstzustände vorgelegt. Einige Kriterien: Hitzegefühle, Herzrasen, Erstickungsgefühle, Angst zu sterben und Magenbeschwerden. Wurden für einen Zeitraum von sieben Tagen vor dem Interview zwölf oder mehr Symptome aus der Liste angekreuzt, werteten die Dresdener PsychologInnen dies als Hinweis, daß mit großer Wahrscheinlichkeit eine Angstkrankheit vorliegt.
Die Ergebnisse erlauben allerdings nicht, die Art der Erkrankung exakt festzulegen. Jürgen Margraf vermutet jedoch, daß besonders das sogenannte „Paniksyndrom“, das plötzliche Auftreten von Angstzuständen, verbunden mit der „Agoraphobie“, der Vermeidung des Besuchs von öffentlichen Orten, häufig auftritt.
Der Bereich der wissenschaftlichen Exaktheit wird vollends verlassen, wenn es darum geht, die sozialen Ursachen zu definieren. Die Untersuchung selbst liefert wegen des beschränkten Fragenkatalogs wenig mehr als Binsenweisheiten: In den unteren Einkommensschichten mit weniger als 2.000 Mark Monatsverdienst kommen Angstkrankheiten überproportional vor, ebenso bei RentnerInnen, SchülerInnen und StudentInnen, die nicht im festen Arbeitsleben stehen. Bei Erwerbstätigen dagegen sind Ängste weitaus seltener.
Wendekrise als Ursache
Einerseits, so meint Jürgen Margraf, sei es „zu platt zu sagen: Der Kapitalismus macht krank“. Wie viele Änste der Import des westlichen Gesellschaftssystems verursacht habe, lasse sich allgemein schwer differenzieren und nur im Einzelfall genau beschreiben. Andererseits weiß der Psychologe, daß Angst immer dann entsteht, wenn eine Situation als „unvorhersehbar und unkontrollierbar“ empfunden wird. Und beide Beschreibungen passen gut auf die Lage der meisten BewohnerInnen der Ex-DDR, die sich mit der Abwicklung ihrer Betriebe und der radikalen Veränderung ihrer Lebensverhältnisse auseinandersetzen mußten. Keine repräsentative Untersuchung hat Professor Reinhard Plassmann, Chefarzt der privaten Burgklinik im thüringischen Stadtlengsfeld, zur Verfügung – wohl aber den Überblick über etwa 2.000 Behandlungsfälle psychosomatischer Erkrankungen seit 1992. Aus den Krankengeschichten leitet der Nervenarzt und Psychoanalytiker ab, daß 30 Prozent auf die soziale Krise seit der Wiedervereinigung zurückzuführen sind. Behandlungsplätze für psychosomatische und Angsterkrankungen gibt es in Ostdeutschland allerdings noch viel zuwenig. Die Technische Universität Dresden und die private Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie haben deshalb kürzlich ein Institut für die Erforschung und Behandlung von Angsterkrankungen gegründet. Die TherapeutInnen arbeiten vor allem mit der sogenannten „Konfrontationstherapie“, wobei die PatientInnen angstauslösenden Situationen nicht länger ausweichen, sondern sie durchleben. Das beseitigt zwar nicht die sozialen Ursachen der Angst, macht den Alltag aber wieder handhabbarer.
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