piwik no script img

Der neue Todesstreifen Neiße

■ Neun Flüchtlinge ertranken dieses Jahr in dem Grenzfluß

Berlin (taz) – Bei dem Versuch, über die Neiße nach Deutschland zu gelangen, sind in diesem Jahr weit mehr Flüchtlinge ertrunken, als bisher bekanntgeworden ist. Nach Recherchen der Antirassistischen Initiative in Berlin haben deutsche und polnische Stellen seit Jahresanfang an den Ufern des Grenzflusses vierzehn Leichenfunde registriert. Neun Tote hatten einen ausländischen Paß bei sich. Die Identität der übrigen Ertrunkenen konnte bisher nicht geklärt werden.

Erst Ende der vergangenen Woche hatten Recherchen der Antirassistischen Initiative bekannt gemacht, daß die deutsch-polnische Grenze seit der Änderung des Asylrechts zu einem Todesstreifen geworden ist. Die Antirassistische Initiative war durch den Hilferuf eines Tamilen aus Westdeutschland alarmiert worden. Der seit Jahren in Deutschland lebende Mann hatte Ende August vergeblich auf seinen Sohn gewartet, der gemeinsam mit Landsleuten die deutsch-polnische Grenze überqueren wollte. Mühsame Recherchen rekonstruierten, was in der Nacht vom 27. zum 28. August geschehen war: Von Warschau kommend, waren die 22 Flüchtlinge ans Neißeufer gefahren worden. „Wir sind einer nach dem anderen ins Wasser, weil man uns gesagt hat, daß es nur bis zur Taille geht. Nach einigen Schritten stand uns das Wasser aber schon bis zum Hals“, berichtet jetzt ein tamilischer Zeuge, der aus Scham und Angst vor Abschiebung nur anonym aussagen will. „Da die Strömung sehr schnell war, bin ich ganz schnell abgetrieben. Da habe ich nur noch ein paar schwimmende Köpfe gesehen, die sind immer auf- und abgetaucht.“

Die verzweifelten Hilferufe der Ertrinkenden, so berichten Überlebende, hätten eigentlich von deutschen und polnischen Grenzschützern gehört werden müssen. Geholfen hat keiner. Tage später fand man sechs Leichen, darunter die des jungen Tamilen, der von seinem Vater gesucht worden war. Vergeblich hatte er zuvor bei der deutschen Botschaft in Sri Lanka ein Einreisevisum beantragt. Aus Angst vor einer neuerlichen Verhaftung durch die srilankischen Sicherheitsbehörden hatte sich der junge Mann auf den einzig noch möglichen Weg nach Deutschland gemacht – auf den illegalen, der tödlich endete. Vera Gaserow

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen