: Die einzige echte Opposition
■ In zwei Ostberliner Stimmbezirken in Lichtenberg und Treptow gaben über 80 Prozent der Bewohner der PDS ihre Stimme / Unterschiedliche Motive für Wahl
Der Stimmbezirk 55 in Treptow hat bereits nach den Europawahlen für Aufregung gesorgt. Die Boulevardpresse glaubte, eine „blutrote Spur“ zwischen Oberschöneweide und Adlershof entdeckt zu haben. Auch bei der Bundestagswahl haben wieder über 80 Prozent rot gewählt, genau 80,7 Prozent.
Karla Friedrichs, 42jährige Zahntechnikerin, gibt ganz offen zu, wen sie gewählt hat: „Ich schäme mich nicht, für die PDS gestimmt zu haben. Ich stehe dazu.“ Sie wohnt zwar auf der gegenüberliegenden Seite der Oberspreestraße, aber sie weiß die Erklärung für den außergewöhnlich hohen PDS-Stimmenanteil in der Johanna-Tesch-Straße: „Die meisten in den Wohnblocks waren beim Ministerium des Inneren und auch früher schon in der Partei.“
Sie bezeichnet sich selbst als „Sympathisantin von Gregor Gysi“. Das populäre Zugpferd der PDS steht für sie auch für den Wandel der ehemaligen SED: „Die, die jetzt das Sagen haben, sind auch die, die früher schon kritisch zur SED standen und zum Teil Repressalien erleiden mußten.“
Vor dem Kaisers-Supermarkt, der von der bogenförmigen Johanna-Tesch-Straße eingeschlossen wird, trifft sich abends, kurz vor Ladenschluß, die Nachbarschaft zum Plausch. Klaus Broder, 57jähriger Rentner und Diplom-Wirtschaftler, sieht in „seiner“ Partei die „einzig echte Opposition im Lande“. Die Grünen finde er auch ganz gut, die seien ihm aber zu zerstritten. Die Ursache des hohen PDS-Anteils sieht er in der Tatsache, daß viele Leute in der Gegend früher beim Wachregiment „Feliks Dzierzynski“ gearbeitet haben. „Jetzt sind die meisten arbeitslos oder Frührentner.“ Er selbst beziehe Altersübergangsgeld, aber Verbitterung sei nicht der Grund für seine Wahl am Sonntag. „Ich find auch gut, daß der Heym jetzt Alterspräsident im Bundestag ist. Er ist mein Lieblingsschriftsteller.“
Sabine Meyer kommt mit vollen Einkaufstaschen aus dem Supermarkt. „Nein, ich habe die PDS nicht gewählt, sondern die FDP.“ Sie fühle sich quasi familiär dazu verpflichtet, ihr Mann sei nämlich bei den Liberalen. Den PDS-Einzug in den Bundestag finde sie jedoch „überhaupt nicht negativ“. „Die Demokratie muß stark genug sein und darf durch diese Partei nicht ins Wanken kommen.“ Die 47jährige Bankkauffrau versteht durchaus, daß viele ehemalige DDR-Bürger sich den etablierten Parteien verweigern: „Viele sind arbeitslos und frustriert, die lehnen sich gegen das westliche System auf.“
Auch in Lichtenberg, einem traditionellen Arbeiterviertel, das seit der Wende mit einer hohen Arbeitslosigkeit zu kämpfen hat, erreichte die PDS in einem Stimmbezirk ebenfalls einen hohen Zweitstimmenanteil. Entlang der Frankfurter Allee, zwischen den S-Bahnhöfen Frankfurter Allee und Bahnhof Lichtenberg, stehen die typischen Plattenbauten der 60er Jahre. Im Hinterhof, zwischen kleinen Laubbäumen, drängen sich Mittelklassewagen.
Johanna Fischer möchte über ihre Wahlentscheidung nichts sagen, aber wie alle Befragten hegt sie eine große Sympathie für die PDS. Sie sieht den Einzug der Partei des Demokratischen Sozialismus als Folge der miserablen Politik der letzten vier Jahre. Sie ärgert besonders die Behandlung der PDS durch die „Westparteien“ im vorausgegangenen Wahlkampf. „Der Kohl soll endlich akzeptieren, daß die drin sind“, ereifert sie sich. „Er soll aufhören, mit Dreck um sich zu werfen.“
Erwin Kutscher, der in der Nachbarschft der Plattenbauten wohnt, sieht in dem hohen Stimmenanteil einen direkten Bezug zur Wohngegend. Gut ein Drittel der Bewohner, so weiß der selbständige Versicherungskaufmann, mußte sich nach der Wende neu orientieren. Viele seiner Kunden in dem 12stöckigen Wohnhaus beklagten sich über die neuen Lebensumstände. „Und wenn ,Freund‘ Kohl dann im Wahlkampf betont, drei Parteien seien genug im Bundestag, braucht er sich nicht zu wundern, daß die Leute schon allein aus Protest die PDS wählen.“ Elke Eckert
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