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Das fehlende Gummi im Film

■ Koordinierungs- und Anlaufstelle AKAM berät MigrantInnen zu HIV und Aids

Kulturelle Unterschiede machen auch vor Betten nicht halt. Und so deutsch wie die Fernsehanstalten sind die Aids-Aufklärungsspots, die sie senden und die sich fast immer an deutsche mittelständische Jugendliche richten. Das gleiche gilt für Aufklärung an Schulen, Beratungs- und Informationsstellen. In Berlin-Mitte versuchen deshalb vier Menschen aus Chile, Brasilien, Kolumbien und Frankreich seit Februar, diesem gesundheitspolitischen Defizit abzuhelfen: mit der „Aids-Koordinierungs- und Anlaufstelle für MigrantInnen“ (AKAM). Von der Sozialsenatsverwaltung wird sie für vorerst drei Jahre finanziert.

Eine Umfrage unter Aids-Beratungsstellen bestätigte ihre Befürchtung, daß Immigranten dort kaum eine Rolle spielen: „Es gibt keine ausländischen Mitarbeiter im Bereich HIV/Aids“, erzählt die gebürtige Chilenin Natascha Gatray, Mitarbeiterin bei AKAM. Folglich gebe es nicht nur sprachliche, sondern oft auch kulturelle Mißverständnisse auf seiten der Beratenden wie der Immigranten.

AKAM versucht deshalb, ihre Arbeit auf das kulturelle Umfeld der jeweiligen Immigranten abzustimmen: „Mit Südamerikanern können Sie nicht über Homosexualität reden, wie es hier inzwischen üblich ist. Grundsätzlich einmal sprechen wir immer nur von Männern, die auch Sex mit Männern haben“, erläutert Claudio Guimaraes, der selber aus Brasilien kommt. „Auch auf türkische Mädchen können Sie nicht einfach zugehen und Kondombenutzung vorführen. Da geht sofort die Klappe runter.“ Um bestimmte Einwanderergemeinschaften zu erreichen, arbeitet AKAM auch mit Aufklärungsspots und Infomaterial aus den Herkunftsländern. „Gerade in Lateinamerika hat man eine eigene Strategie aufgebaut“, erzählt Guimaraes. „Brasilianische Fernsehspots gehen zum Beispiel ganz anders an Aids heran. Sie sind viel lustiger, berichten nicht nur über Sexualität, sondern auch von der Lebensrealität bestimmter Gruppen.“

AKAM geht neben der Beratungs- und Vermittlungsarbeit im Büro auch mit öffentlichen Veranstaltungen auf bestimmte Gruppen zu, möglichst ohne diese unter dem Label „Aids“ anzukündigen. Am vergangenen Freitag kam bei einem Treffen eine Gruppe lateinamerikanischer Frauen zusammen. „Es gibt ein ungehgeures Bedürfnis, erst einmal über die eigene Sexualität zu reden“, erzählt Natascha Gatray. „Viele setzen sich bei solchen Gelegenheiten zunächst erst mal mit ihrer Rolle als Frau auseinander.“ Dabei würde die Schwierigkeit der eigenständigen Sexualität oft noch verstärkt durch das Gefühl, in Deutschland als „Exotin“ behandelt und somit doppelt als Objekt männlicher Begierde entwürdigt zu werden. „Wenn man nicht für sich selber klar hat, daß der Körper ein privater Reichtum ist, ist es sehr schwer.“

Zu den kulturellen Unterschieden, die für ein Aids-Projekt für Migranten sprechen, gesellen sich die Probleme, die sich aus der Diskriminierung ergeben: Illegalität, die Angst vor Abschiebung bei einer Aids-Erkrankung, ungesicherte Zukunft, Wohnungs- und Arbeitslosigkeit. Wer leichter verletzbar sei, verzichte auch eher auf Kondome, so die Erfahrung der AKAM-Mitarbeiter. „Wenn du nicht das Gefühl hast, dein Leben zu bewältigen, ist es auch unwahrscheinlicher, daß du bewußt mit dir umgehst“, formuliert es Guimaraes. Somit steht das „Gummi“ für viel mehr als für Safer Sex: für Schutz, Sicherheit und Selbstbewußtsein.

Um „Migranten, Sex, Kulturen und das fehlende Gummi“ dreht sich auch das Filmfestival, mit dem AKAM am Freitag eine Filmreihe im Babylon-Mitte startet. Mit einem Dokumentarfilm, elf Spiel- und einer Palette von Kurzfilmen sowie mit Kondomspots aus aller Welt wenden sich die Veranstalter nicht nur an Migranten. Die Filme haben nicht in erster Linie Aids zum Thema – sie tragen Alltagsporträts von Eingewanderten zusammen. Neben bekannten Regisseuren wie Stephen Frears und Gus van Sant werden in Deutschland bisher nicht gelaufene Produktionen unbekannter Regisseure gezeigt. In den Filmen geht es nicht um romantisierte Reisen, sondern um gesellschaftlich enge Räume und ghettoisierte Kulturen. Jeannette Goddar

„Migranten, Sex, Kulturen und das fehlende Gummi“ startet am Freitag um 21 Uhr im Babylon-Mitte und endet am 31.10. Programme liegen in diversen Cafés und im Babylon-Mitte aus. AKAM ist in den Räumen 529 und 534 in der Chausseestraße 8 (Eingang Novalisstraße) erreichbar.

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