Von der Euter- zur Tellerwäscherin

■ Eine sehr lebenstaugliche Heldin in Kerstin Hensels Erzählung „Tanz am Kanal“

Die jungen Mädchen, die seit einiger Zeit in Erzählungen, Romanen und Theaterstücken auftauchen, sind schon ernüchtert, bevor sie überhaupt schwärmen können. Die junge Gabriela von Haßlau in Kerstin Hensels Erzählung „Tanz am Kanal“ ist eine von ihnen und beweist ihre Lebenstauglichkeit gleich in zwei Perioden jüngster deutscher Geschichte: in der Endphase der DDR und im gerade wiedervereinten Deutschland.

Als Tochter eines angesehenen Arztes, der in der real existierenden Mangelwirtschaft einer DDR- Kleinstadt gerne den Bohemien spielen würde, bekommt sie früh mit, daß ihre Eltern sie mißbrauchen, um sich von sich selbst abzulenken. Weiterkommen kann sie nur durch Aufmüpfigkeit, was sie auch erfolgreich praktiziert. Später, mitten in den Vereinigungswirren, will man sie in die Psychiatrie stecken, aber sie setzt dem untersuchenden Psychiater derart zu, daß sie nach einer Stunde wieder draußen ist. Eine halbe Seite und einen kurzen, witzigen Dialog braucht Kerstin Hensel für diese Episode. Das ist ihr Markenzeichen. Sie kann mit wenigen Strichen Situationen und Atmosphären skizzieren, wie etwa das Ende von Gabrielas Spitzeltätigkeit, wenn sie ihren Führungsoffizier Queck mitsamt Chauffeur im See des VEB Binnenfischerei versenkt. Daß sie tatsächlich zwei ausgewachsene und Stasi-geschulte Männer von einem Boot aus ins Wasser befördert, mag man allerdings kaum glauben.

Die Ironie der unsentimentalen Erzählung liegt denn auch eher darin, daß das vagabundierende und alles andere als wohlriechende Mädchen sein Schreibtalent während der Niederschrift von Spitzelberichten entdeckt und daß sich diese DDR-Erfahrung in einer Episode aus neudeutschen Landen spiegelt. Anders als in ihrer kurzen, vor einem Jahr erschienenen Erzählung „Im Schlauch“, die eher wie ein Entwurf wirkt, treibt Kerstin Hensel ein wohldurchdachtes Spiel mit zwei Erzählsträngen und Zeitebenen. Man sitzt mit Gabriela unter der Brücke am Kanal und verfolgt, wie sie ihre Jugenderinnerungen auf gefundene Papierfetzen schreibt. Je nachdem, ob das Wetter erträglich ist oder die Finger klamm werden, geht es schneller oder langsamer vorwärts, kommt es zu motivischen Vexierspielen. Der Stasi-Episode genau entgegengesetzt ist das Auftauchen zweier Reporterinnen eines Magazins, die nach der Vereinigung eine Vorzeigeobdachlose interviewen wollen und dabei eine Jungautorin entdecken. Für den Abdruck von Gabrielas erster Erzählung ist gesorgt – es kann schnell gehen in der real existierenden Marktwirtschaft, wenn man wie Gabriela von Haßlau in einer Mischung aus Kamikazetum und nüchterner Verzweiflung vorprescht. Die etwas konstruierte Parallele liegt auf der Hand: Sowohl bei der Stasi als auch im Medienbetrieb geht es um Informationsbeschaffung und -vermarktung.

Die 33jährige Kerstin Hensel ging nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester ans Leipziger Institut für Literatur und arbeitete am Theater. Seit 1987 hat sie einen Lehrauftrag an der renommierten Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, 1991 erhielt sie den Leonce-und-Lena- Preis des Darmstädter Literarischen März, womit man nicht zuletzt ihren Erzählton im Blick gehabt haben dürfte: Ihr prägnantes, fast schon atemloses Erzählen mit kurzen Reihungen von Orten, Erlebnissen, Dialogen, wozu auch DDR-Archäologie gehört; die „neuen blauen FDJ-Hemden“, der „Konsum-Klau“ und der „Klassenstandpunkt“. Kerstin Hensel läßt das unaufdringlich einfließen, da der Blick ihrer Heldin konsequent skeptisch ist, als wolle sie sich die DDR-Vergangenheit in gebührendem Abstand vom Leibe halten, ob es nun um die DDR- Schwerindustrie geht, wo sie Eisenplatten entgratet, oder um den Stall einer kleinen LPG, wo sie Euter wäscht. Im wiedervereinigten Deutschland geht es für sie mit Tellerwaschen in einer Kneipe weiter. Wirtin ist Semmelweis Märrie, die schon in Hensels erster Erzählung Schnäpse balancierte und deren Kneipe jetzt von Obdachlosen bevölkert ist.

Gabriela sitzt am Ende wieder am Kanal, wo sie ausgerechnet von einem Hauptkommissar ins bürgerliche Leben zurückgeholt wird. So kann's kommen.

Jürgen Berger

Kerstin Hensel: „Tanz am Kanal“. Suhrkamp Verlag, 119 Seiten, 29,80 DM.