: Die Wunden sind noch nicht verheilt
Vor einem halben Jahr erreichten die Massaker in Ruanda ihren Höhepunkt / Die neue Regierung der Ex-Guerilla RPF kann Racheakte nicht verhindern / Volle Massengräber und volle Diskotheken ■ Aus Kigali François Misser
Auf einem Hügel, der das wunderschöne Panorama des Kivu- Sees überragt, liegt das Dorf Mabanza. Als die Dorfbewohner am 5. Oktober Unrat beiseite räumen wollten, stießen sie auf fünf oder sechs Leichen im fortgeschrittenen Verwesungszustand. Jetzt ragen aus dem Dickicht der Eukalyptusblätter drum herum menschliche Überreste heraus, und schmutzige, von geronnenem Blut befleckte Kleidungsstücke sind zu sehen. Weiter vorn ist die Erde offenbar vor nicht langer Zeit umgegraben worden – so, als hätte jemand hier hastig Tote bestattet.
Es ist keine spektakuläre Szene in Ruanda, wo im Frühjahr die militanten Anhänger des mittlerweile gestürzten Habyarimana-Regimes in wenigen Wochen Hunderttausende von Menschen umbrachten. Die Nachbarn erzählen: Auf diesem Hügel namens Bugana lebten früher zehntausend Menschen, zumeist Tutsi. Nach Schätzungen der UNO-Mission Unamir sind siebentausend von ihnen zwischen dem 6. und 12. April ums Leben gekommen, bei einer Operation der Miliz der früheren Staatspartei MRND. Heute ist der Hügel in Nyamagumba umbenannt worden, in Erinnerung an das in einer anderen Präfektur liegende Ursprungsdorf der meisten Opfer.
Ein halbes Jahr nach den Massakern umhüllt immer noch Todesgeruch die Hügel von Ruanda. Im Ort Mukingi, in der Nähe des zentralruandischen Gitarama, führen die Bewohner einer Stätte namens Mungendo Mbi den Besucher an einen Fluß, wo eine kleine weißliche Leiche, wohl die eines Kindes, im klaren Wasser ruht. Der Gestank ist unerträglich. Aus einem etwa zehn Meter langen und schätzungsweise drei Meter tiefen Graben ragt ein Bein. Oben liegt ein Schädel und ein vertrockneter Leichnam. Die Bewohner zeigen auf einen weiteren Graben und erzählen: Hier haben die Truppen der „Ruandischen Patriotischen Front“ (RPF) am 19. Juni, nach ihrem Sieg über die alte Regierung, über 100 Menschen erschossen.
Alison Desforges von der Menschenrechtsorganisation „Africa Watch“ hat diesen Ort besucht. Ist das der Grund, warum eine die Todesstätte überragende Baumgruppe mitsamt den darin befindlichen Leichen inzwischen in Flammen aufgegangen ist? In der Morgendämmerung, sagt ein Dorfbewohner, kamen Soldaten der mittlerweile in „Ruandische Patriotische Armee“ (RPA) umbenannten RPF, um „sauberzumachen“.
Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR hat in einem Bericht die RPF sogar beschuldigt, nach ihrer Eroberung der Hauptstadt Kigali im Juli Massaker begangen zu haben. In Kigali weiß davon niemand etwas. Der Bericht hat zu einer Polemik zwischen UNO und neuer ruandischer Regierung geführt. In dem Streit sind die größtenteils von Anhängern des alten Regimes zur Flucht bewogenen 1,5 Millionen Ruander in Zaire und Tansania zum Spielball geworden. Seit Anfang Oktober ist der Strom der Rückkehrer aus dem zairischen Goma versiegt. Ein Grund ist sicher der UNHCR- Bericht. Einen anderen nennt Zaires Premierminister Kengo wa Dondo in einem Gespräch mit der taz: „Die geflüchteten Zivilisten in Zaire sind nach Präfekturen gruppiert. Die Präfekten üben Druck auf sie aus, damit sie nicht nach Ruanda zurückgehen, denn die Rückkehr der Flüchtlinge würde in den Augen der Exilpolitiker der neuen Regierung in Kigali Legitimität verschaffen. Die Milizen verüben Übergriffe in den Lagern, sie verhindern mit Waffengewalt, daß irgen jemand zurückgeht.“
Aber auch in Ruanda kursieren Gerüchte, und zwar oft beängstigend präzise. Es geht um namentlich genannte Menschen, von denen man erzählt, sie seien entführt worden oder verschwunden oder würden in geheimen Militärlagern der RPA gefangengehalten. Selbst Innenminister Seth Sendashonga gibt zu, daß es im Land Unsicherheit gibt: Im August sei eine ganze RPF-Militäreinheit wegen Übergriffen in der Region Gitarama verhaftet worden. Mitte September befanden sich 70 RPF-Soldaten wegen strafbarer Handlungen hinter Gittern.
Dennoch bestreitet Sendashonga den UNHCR-Bericht: So habe er eines der Massengräber im Ort Musaza, das in dem Bericht der RPF zugeschrieben wird, bereits im Mai besucht, und die Tötungen dort hätten im April stattgefunden, noch unter dem alten Regime. Daß der Bericht ein Massaker in der Kirche des Ortes Nyarubuye der RPF zuschreibt, macht Industrieminister Prosper Higiro ausgesprochen wütend: Unter den dort aufgefundenen Toten, sagt er, befanden sich seine Mutter und seine Geschwister.
Die neuen Herrscher in Ruanda verweisen auf eine unbestreitbare Tatsache: Ihre Vorgänger praktizierten den systematischen Völkermord; unter der neuen Herrschaft kommt es lediglich zu vereinzelten, von der Politik nicht gedeckten Übergriffen. Daß das Thema aber auf den Nägeln brennt, wurde am 1. Oktober deutlich, während der Militärparade im Amahoro-Sportstadion von Kigali zur Feier des vierten Jahrestages des Beginns des „Befreiungskampfes“ der RPF im Jahre 1990. Der Vizepräsident, Verteidigungsminister und starke Mann der RPF, General Paul Kagame, hielt es für notwendig, in seiner Rede eine ernste Warnung vor jeglicher Rache antatsächlichen oder vermuteten Verantwortlichen für den Völkermord auszusprechen.
Solche Rache hat es gegeben: Unter den etwa 6.000 Insassen der Gefängnisse von Kigali und Butare sitzen einige, deren Schuld darin bestand, mit einem Mitglied der gefürchteten „Interahamwe“-Miliz des alten Regimes ein Gläschen gekippt zu haben. Und in den Gefängnissen sind Nahrungsmittel äußerst knapp, obwohl hier das UNO-Welternährungsprogramm WFP Abhilfe versprochen hat.
Wer aus Zaire kommt, findet Ruanda ruhig
Es gibt Unsicherheit im heutigen Ruanda – aber man kann sie mit der Anspannung in den letzten Jahren des alten Regimes vor dem Beginn des Völkermords im April nicht vergleichen, als immer wieder politische Morde stattfanden, als Unbekannte Handgranaten auf Märkte warfen. Wer heute aus den Hauptstädten Zaires und Burundis, Kinshasa und Bujumbura, oder aus dem zairischen Goma kommt, findet Kigali ruhig.
Es ist sogar möglich, gut die Hälfte des Landes problemlos nachts zu durchqueren, so als wäre die RPA von den Drohungen der nach Goma geflohenen Milizionäre mit einem Wiedereinmarsch nicht im geringsten beeindruckt. „Wenn sie in Frieden zurückkommen, sind sie willkommen“, sagt ein grinsender Offizier. „Wenn sie mit anderen Plänen zurückkommen, sind sie auch willkommen. Wir sind darauf vorbereitet.“
Für die RPF gibt es in Ruanda zunächst andere Probleme. Sie muß zunächst einmal den Überlebenden des Völkermordes ein Gefühl der Sicherheit bieten. In und um die ehemalige französische „Sicherheitszone“ im Südwesten des Landes, wo die RPF erst vor kurzem eingerückt ist, haben so wenige Menschen die Massaker überlebt, daß sie ihre Rechte kaum geltend machen können, zumal oftmals hier noch Beamte der früheren Regierung amtieren.
Ein Beispiel ist die Familie des 12jährigen Jean-Pierre Gasoré aus dem Ort Nyange, ein Tutsi. Er wurde am 12. April an einer „Interahamwe“-Straßensperre für tot gehalten, nachdem er zwei klaf
fende Machetenwunden an beiden Nackenseiten abbekommen hatte. Seinen Vater, dessen Eltern und seine beiden kleinen Brüder hat er verloren. Seine Mutter versucht nun verzweifelt, von den Lokalbehörden den Familienacker zurückzubekommen. In ihren Armen hält sie ein wenige Monate altes Baby, das bereits alle Merkmale der Unterernährung aufweist. Als letzte Nahrung erhielt diese Familie eine Woche vor unserem Besuch fünf Kilo Bohnen. Hier hat die RPF wenig zu sagen, und weitab der Straßen ist das Elend unsichtbar.
Trotz allem: Es wird wieder gelebt in Ruanda. Seit Anfang Oktober der Regen einsetzte und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz mit der Verteilung von Saatgut und houes begann, sind im großen Tal zwischen Kigali und Gitarama die Felder voller arbeitender Bauern. Die Bewohner Kigalis haben begonnen, mitten in der Stadt Bohnen anzubauen, und der belebte Markt bietet Lebensmittel aller Art. Und obwohl es dem RPF- Präsidenten und Minister für den öffentlichen Dienst, Alexis Kanyarengwe, ins Büro regnet, funktionieren Strom und Telefon.
Wer heute in Kigali eine Machete trägt, ist kein Mörder, sondern höchstens Gärtner. Die Diskotheken der Hauptstadt, „Kigali Nights“ und „Cosmos“, sind so voll wie zu Vorkriegszeiten. Aber das Publikum ist ein anderes geworden: Es besteht hauptsächlich aus Tutsi, die aus langen Jahren Exil in Uganda und Burundi nach Ruanda zurückgekehrt sind – nur sie haben genügend Geld. Oft spielen sich hier ergreifende Wiederbegegnungsszenen ab: „Was, du hier? Ich dachte, du stündest auf der Todesliste.“
In einem Land, das gerade einen Völkermord hinter sich hat, ist jedes noch so banale Ereignis ein Hoffnungssignal. Bis zum 1. Oktober mußten Biertrinker sich mit dem ugandischen „Nile Special“ oder aus Burundi importierten Flaschen „Amstel“ und „Primus“ begnügen. Inzwischen hat ein Ingenieur der holländischen Heineken die Brauerei von Gisenyi instand gesetzt, und nun ist das ei
gene, ruandische „Primus“ wieder erhältlich. Eine unschätzbare Errungenschaft in Afrika, wo Brauereien eine enorme strategische Bedeutung haben.
Während zumindest in Kigali eine neue Normalität einkehrt, schlägt sich die Regierung mit diplomatischen Verwicklungen herum: Um Beamten- und Soldatengehälter zu bezahlen, braucht sie dringend Finanzhilfe von den internationalen Geldgebern. Viele RPA-Soldaten, im letzten Kriegsstadium rekrutiert, haben zwar zu essen, aber bekommen kein Geld – Kern möglicher neuer Konflikte. Die Geldgeber aber, und besonders auch die EU, verlangen als Bedingung für Hilfe eine Erweiterung der Regierung, um das alte Regime einzubinden. Das erweist sich als schwierig – und es ist nicht die Schuld der RPF. Die neuen Machthaber haben Persönlichkeiten, die nicht der RPF angehören, sowie Politikern der früheren Oppositionsparteien und sogar solchen Angehörigen der alten Staatspartei MRND, die nicht als Beteiligte am Völkermord gelten, Angebote gemacht, die allesamt abgelehnt wurden.
Solange die Angehörigen des gestürzten alten Regimes nicht in Kigali mitbestimmen können, so die EU, werden die Flüchtlinge kein Vertrauen in die neue Regierung haben und daher auch nicht zurückkehren.
Gleichzeitig hat die EU aber nicht genau gesagt, was für eine Regierung sie in Ruanda gerne hätte und wer darin sitzen sollte. Überhaupt ist nicht zu sehen, wie der Eintritt einiger zusätzlicher „moderater Hutu“ in die ruandische Regierung, die ja schon jetzt aus Tutsi und Hutu besteht, irgend etwas verändern kann, solange in Goma weiterhin die ruandischen Milizen mit ihren Waffen die Flüchtlinge kontrollieren. Die Hardliner der exilierten ruandischen Armee wollen ihre Teilnahme an der Macht in Ruanda aushandeln, so als wäre der Völkermord nur eine rasch zu vergessende Episode. Das aber – so bestätigen nicht weniger als vier Minister in Kigali – ist undenkbar.
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