: Die wandelnde Bannmeile
■ Darf die Polizei einschreiten, wenn Herr Voscherau sich nicht beleidigt fühlt?
„Voscherau spinnt“. Nicht weil sie ein Transparent mit eben dieser Aufschrift vor der Altonaer Fabrik in die Höhe gehalten hatten, mußten sich ein Kunststudent und dessen arbeitsloser Freund gestern vor dem Amtsgericht Altona verantworten. Auch nicht, weil sich der Erste Bürgermeister, der an jenem 30. August 1993 zusammen mit Oskar Lafontaine wahlkämpfte, beleidigt oder verunglimpft fühlte. Henning Voscherau hatte keine Anzeige erstattet.
Die beiden jungen Männer standen vor dem Kadi, weil sie den Polizeibeamten, die das in Andy-Warhol-Manier gestaltete Transparent sicherstellen wollten, Widerstand geleistet haben sollen. Konkret, so lautet der Vorwurf in zwei Strafbefehlen a 900 und 600 Mark, die den beiden ein Jahr später zugesandt wurden, hätten sie einem der Polizeibeamten drei Finger verdreht.
So ginge das ja nun nicht, wandte Verteidiger Dieter Marksam ein. In den Strafbefehlen fehle die Erklärung, zu welchem Zweck der Polizeieinsatz überhaupt erfolgt sei. Co-Verteidiger Manfred Getzmann: „Es kann doch nicht angehen, daß hier irgendwer einfach Transparente wegnimmt.“
In der Strafanzeige, die dem Strafbefehl voranging, wurde ein Verstoß gegen das Versammlungsgesetz, speziell Paragraph 16 (Bannkreisverletzung) angeführt. Dazu Marksam: „Da wird geltend gemacht, daß Voscherau den Bannkreis ständig mit sich herumträgt“. Lacher im Publikum. Die Verteidiger beantragten, dem Strafbefehl doch bitte die Begründung für den Polizeieinsatz beizufügen. Die leicht genervte Richterin, die bereits vor der Verhandlung Polizeischutz beantragt hatte, „für den Fall, daß die Öffentlichkeit sich nicht so verhält, wie ich es erwarte“, lehnte ab.
Doch die Frage nach dem „Warum“ zog sich zäh durch die Verhandlung. Auch die drei Polizisten wußten nicht, weshalb sie das Stück Stoff beschlagnahmen sollten. Er selbst habe den Satz „Voscherau spinnt“ als beleidigend empfunden, sagte einer der Beamten.
Bei der Transparent-Aktion habe es sich um „Kunst“ gehandelt, plädierte Marksam, um dies zu erklären, müsse man das Corpus delicti jedoch zeigen. Fehlanzeige, die Richterin hatte das Beweisstück nicht dabei. Bevor der Prozeß am Montag fortgesetzt werden kann, muß sie in der Asservatenkammer danach stöbern. Kaija Kutter
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