: Viele W-Fragen und keine Worte
■ Amerikahaus: Paul Williams stellte sein Opus „Like A Rolling Stone“ über Bob Dylan vor
Picasso war ein großer Künstler, zweifellos. So viele Bilder hat er gemalt! So oft den Zeichenstift übers Papier huschen lassen! Man bräuchte ein ganzes Leben, um das Werk des Malers aus der unmittelbaren Anschauung gebührend zu würdigen. Da erstarrt der gemeine Mensch in demütiger Ehrfurcht.
Bob Dylan ist immer noch ein großer Künstler. So oft ist er vors Mikro getreten! Und jedesmal war es anders! Auf seiner diesjährigen Deutschlandtournee war es ganz besonders anders. 1500 derart einzigartige Performances umfaßt sein bisheriges Werk, dazu noch ein paar Dutzend Platten. Welch gigantisches Schaffen! Und wieviele Jahre, nein: Jahrzehnte bräuchte man, um allein den zugänglichen Dokumenten dieser Konzerte auf angemessene Weise zu lauschen.
Bedürfte es eines weiteren Beweises, um den Sänger in das Pantheon der Kunst des 20. Jahrhunderts zu heben? Nicht für den amerikanischen Musikjournalisten Paul Williams. Er war ins Amerikahaus eingeladen worden, um aus seinem eigenen Werk zu lesen: dem ersten, nun auf deutsch erschienenen Band seines dreiteiligen Opus über den performing artist Bob Dylan (Like a Rolling Stone, Palmyra Verlag, 49,80 DM).
Williams begann seine Performance mit geradezu dylanesker Nonchalance. Nach einigen Minuten des Suchens fand er die für diesen Abend geeignete Passage in seinem Buch: Die Schilderung einer Studiosession Anfang 1965, in der Dylan drei seiner wichtigsten Lieder, darunter „Mr. Tambourine Man“, der Nachwelt übermittelte.
Deren künstlerischer Gehalt offenbart sich dem Autor mit Hilfe einer unorthodoxen Forschungsmethode. „Ich sitze gerade hier“, schreibt er, „und lupfe die Nadel auf meinem Plattenspieler hin und her, um diese drei Stücke in der Reihenfolge anzuhören, in der sie aufgenommen wurden.“ Immer wieder unterzieht er sie dieser Prozedur, doch „dann wird das Geheimnis noch größer“.
Bedeutsame Fragen drängen sich ihm auf: „Zu wem spricht er, und von wo aus spricht er? Wie schafft er es nur, den Text dann auch noch in einer Weise zu singen, als sei er sich der Bedeutung und Wirkung jeder Nuance voll bewußt?“ Ist es da nicht vermessen, auf Antworten zu hoffen? Der Leser tut es jedenfalls vergeblich.
Ähnlich ergeht es ihm bei dem Versuch der Annäherung an das 11minütige Epos „Desolation Row“ von dem Album Highway 61 Revisited. Welche Zeit wird da beschrieben, will Williams wissen. „Ist es die Abend- oder Morgendämmerung? Mitternacht? Ende eines Zyklus? Kurz vor der großen Show?“ Fragen über Fragen. Worum geht es überhaupt? Wie? Und wo? Und was? Williams kapituliert: „Dafür gibt es keine Worte.“
Derart hilflose Schwärmerei füllt viele der 414 Textseiten. Die Übersetzung des zweiten Bandes ist in Vorbereitung, seine Veröffentlichung für nächstes Jahr angedroht.
Derweil sitzt der 46jährige Williams, der als Gründer der legendären Rockzeitschrift Crawdaddy in legendären Hippiezeiten wenn nicht einen Ruf, so doch einen Nimbus zu verlieren hat, über Band drei. So mancher Ausschnitt aus Dylans „Werk“ wird ihm entgehen. „Ich bin mir nicht sicher“, tröstet er sich, „ob es gut ist, Zugang zu einem so großen Teil des Werks eines Künstlers zu haben.“
Klaus Frederking
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