: Unsortierte Gewinn- und Verlustrechnungen Von Klaudia Brunst
Angeblich haben ja bei der letzten Bundestagswahl alle gewonnen, und trotzdem bleibt „alles beim alten“. Zwar sei der Abstand zwischen links und rechts, zwischen Radikaldemokraten und Freiliberalen, dicken und dünnen Pfälzern geringer geworden – aber die Republik, so meint auch die Tokioter Börse, werde in Kontinuität, Stabilität, Debilität weiterregiert.
Wir hatten das Wahlergebnis noch nicht bis zum letzten Tropfen hinuntergespült, da wurden die Kontinuitätstheoretiker schon Lügen gestraft: Zumindest in unserem Lebensmittelpunkt, also im Schmelztiegel zwischen Ost und West, in der Front- und Hauptstadt Berlin, ist nämlich nichts mehr wie zuvor. Die Metamorphose begann bereits in der Wahlnacht. Als wir auf unserer Wahlpartyrunde unsere Fahrräder an unseren Stammbaum vis-à-vis unserer Stammkneipe anschließen wollten, trat uns ein mäßig situierter, zudem enttäuschend angetrunkener Enddreißiger entgegen und meinte, so ginge es nun aber nicht mehr. Keinesfalls dürften wir, explizierte er uns schwankend, unsere Fahrräder an diesen Baum anschließen, weil: „den habe ich nun schon seit acht Jahren in Pflege, und von solchen linksradikalen PDS-Wählern wie euch“ lasse er sich seinethalben bündnisgrüne Stimmen wegnehmen – keinesfalls aber seinen Baum. Unsere durchaus sachbezogenen Einlassungen, die Fahrräder schadeten dem Baum doch gar nicht, so würde nicht einmal ein Hund gegen seinen Pflegling urinieren können, halfen nicht. Kühl bis in die Bama-Schuhe begann der Mann, sich ganz radikaldemokratisch für den Erhalt seines Baumes an selbigen zu ketten. Wir lenkten ein – und drehten ab.
Schon wenige Stunden später trafen wir den nächsten frustrierten Wahlbürger: „Ihr Basisdemokraten seid doch sonst immer so für Einhaltung der Gesetze!“ schimpfte er uns hinterher, als wir die Fußgängerzone verkehrswidrig durchradelten. „Wie gut, daß man euch nicht die Geschicke dieser Republik anvertraut hat!“ Wir sparten uns jeglichen Kraftausdruck, allerdings auch das scheinliberale Absteigen – und fuhren, etwas irritiert über den neuen Politikdiskurs, nach Hause.
So richtig irre wurde es dann am nächsten Tag. Unser Feinkostlädchen hatte sozusagen als Wahlnachlese ein Schnäppchen annonciert: „Salami, sortiert, 2,29 DM“. Höflich fragten meine Freundin und ich, ob es denn auch möglich sei, insgesamt 100 Gramm Salami- Sorten unsortiert zum genannten sortierten Preis zu erstehen – nämlich Kirschwassersalami, Camembertsalami und Fenchelsalami zusammen. „Das“, so die Metzgerin mühsam beherrscht, sei „allerdings der Sinn eines sortierten Angebots“. Wie treue Kunden wüßten, biete diese Frischeabteilung auch Mortadella sortiert, Braten sortiert und gelegentlich sogar Schinken sortiert an. Gerade aber wenn wir nur Fenchelsalami, nur Walldorfbraten oder nur Trüffelmortadella wünschten, gelte das günstige, weil sortierte Angebot nicht. „Wenn Sie die Regeln des freien Marktes schon nicht verstehen wollen, hätten Sie dann nicht wenigstens die einzige liberale, unternehmensorientierte Kraft des Wirtschaftsstandorts Deutschland wählen können?“ seufzte sie, offenbar nicht minder vom gestrigen Abend enttäuscht als wir.
Überall Wahlgewinner? Man mag es wirklich nicht glauben.
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