: Aachen am 21. Oktober 1994
Heute vor 50 Jahren wurde Aachen als erste deutsche Stadt von der Nazi-Herrschaft befreit – und vergißt das Feiern fast ganz / Stefan Heym gehörte zu den Befreiern / Eine kleine Deutschkunde ■ von Bernd Müllender
Aachen, 21. Oktober 1994: Der Markt ist schwarz von Menschen. Die Polizei schätzt ihre Zahl auf 10.000. „An diesem ganz besonderen Gedenktag“ (Bundespräsident Herzog) ruht in Aachen die Arbeit. Schulen und Geschäfte sind geschlossen. Die ARD überträgt den Festakt live. Fahnen überall, Musikgruppen, ergreifende Reden. Ein erster Höhepunkt war die Grußbotschaft von Präsident Clinton, zu der sich auch CNN zuschaltete.
Seit den Morgenstunden läuten im Dom die Freiheitsglocken, McDonald's schräg gegenüber des Rathauses hat heute den Peaceburger im Angebot. Gerade spricht ein Aachener Deserteur über die letzten Tage des Terrors. Er scheut sich nicht, mehrfach von Applaus unterbrochen, die Greueltaten der Wehrmacht anzusprechen. Mit Spannung wird für den Nachmittag die Rede des designierten Bundestags-Alterspräsidenten Stefan Heym erwartet.
Kein Scharping, Kinkel oder Fischer hat in den vergangenen Wochen auch nur halb so viele Interessierte anlocken können. Aber was ist schon ein Bundestagswahlkampf gegen den Anlaß dieses Tages: Heute vor 50 Jahren, am 21.10.1944 und damit über ein halbes Jahr vor Kriegsende, befreite die US-Army Aachen als erste deutsche Stadt vom Nazi-Faschismus.
Das Szenario oben ist mit keinem Wort übertrieben. Es ist erfunden. Der große Tag, der 21. Oktober, ist in Aachen – Alltag. Außer ein paar kleinen Alibiveranstaltungen passiert nichts. Wie anders in den belgischen und niederländischen Gemeinden nebenan, die sich seit Wochen bis ins kleinste Dorf gegenseitig überbieten mit Umzügen, Volksfesten und Feiern.
Lüttich, Spa, Maastricht, Kerkrade, Eupen – die Fünfzigjahrfeiern näherten sich seit August zügig der alten Reichsgrenze. In Aachen ist Schluß. Ist Aachen, wie ganz Deutschland 1944/45, also wirklich „befreit“ worden? Oder empfinden die Menschen das Kriegsende bis heute als militärische und moralische Niederlage? Aachen in den vergangenen Wochen wirft ein erhellendes Licht auf dunkle deutsche Befindlichkeiten.
Am 8. Juni 1994 schrieb die grüne Ratsfraktion einen Brief an die Stadtführung: Oberbürgermeister Dr. Jürgen Linden (SPD) und Oberstadtdirektor Dr. Heiner Berger (CDU) mögen „als Repräsentanten der Stadt und der Bürgerschaft die Federführung übernehmen“, daß der 21. Oktober „seiner Bedeutung entsprechend gestaltet“ wird.
Genau 61 Tage brauchten die Stadtoberen für ihre Antwort: Man habe „Kenntnis genommen“. Man habe versucht, „amerikanische Befreier namentlich ausfindig zu machen und einzuladen. Leider vergeblich.“ Man halte „andere adäquate Alternativen“ nicht für „realisierbar: Bei aller Wertschätzung, die auch wir der Bedeutung dieses Ereignisses beimessen, möchten wir Sie deshalb um Verständnis bitten, daß wir eine besondere Veranstaltung zu diesem Tage nicht vorsehen.“
Die Absage verursachte keinerlei Aufregung. Wichtigeres stand an: Neben dem Bundestags- war vor allem der Kommunalwahlkampf in seine entscheidende Phase gegangen. Grüne und SPD arbeiteten daran, ihre knappe „Gestaltungsmehrheit“ gegen eine aggressive CDU zu verteidigen (was am vergangenen Sonntag knapp glückte). „Wir haben gemerkt“, sagt Grünen-Sprecher Günter Schabram, „der Termin 21. Oktober kommt wegen des Wahlkampfs allen ungelegen.“ – Konnten die Amis mit der Befreiung damals nicht drei Monate warten?
Die Aachener Presse empörte sich unterdessen über die Holländer: Maastrichts Stadtregierung hatte entschieden, zu ihrem großen Befreiungsfest ausdrücklich keine deutschen Repräsentanten einzuladen. Dann sorgten die Aachener Nachrichten selbst für Unmut, mit dem Abdruck einer zweimonatigen Serie „Aachen vor 50 Jahren“. In einer Art Kriegstagebuch ging es rein militärisch und skurril einseitig zu: Die Deutschen verteidigen aufopferungsvoll, die Angreifer, „Roosevelts Schlächter“ oder schlicht „Feind“ genannt, „nahmen“ und „eroberten“ Dörfer und Vororte auf dem Weg ins bedauernswerte Aachen, „stießen vor“ trotz des „erfolgreichen Widerstandes“ der braunen Wehrmachtshelden.
„Nationalistischer Landser- Dreck in Reinform“ kommentierte das Stadtmagazin Klenkes. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes forderte den Abbruch der gedankenlosen Gedenk- Serie. Der Chefredakteur ordnete nur „vorsichtiges Gegenlesen“ an. Ein Redakteur: „Geändert hat sich dadurch nichts. So ungeheuerliche Sätze wie – das holländische Maastricht sei von den Amerikanern ,erobert‘ worden – blieben drin. Und dann kamen auch noch erschreckend viele positive Reaktionen von den Lesern.“
Die letzten zehn Tage im Kampf um Aachen waren an Grausamkeit kaum zu überbieten. Mit aller Macht wollten die Nazis verhindern, daß die erste Stadt auf Reichsgebiet in die Hände der Alliierten fiel. Der Westdeutsche Beobachter im September 1944: „Unerbittlicher als je zuvor sind wir Deutsche entschlossen, den stolzesten Vorbildern nationalen Widerstandes nachzueifern, wo immer die bolschewistischen Horden oder die anglo-amerikanischen Gangster deutschen Boden besudeln, deutsches Volk zu erniedrigen versuchen sollten. Kein deutscher Halm soll den Feind nähren, kein deutscher Mund ihm Auskunft geben, keine deutsche Hand ihm Hilfe bieten – nichts als Tod, Vernichtung und Haß wird ihm entgegegentreten, schaudernd soll er verbluten, auf jedem Meter deutschen Boden, den er uns rauben will.“
Aachen – eine Stadt verschläft ihre einmalige geschichtliche Rolle. Dabei könnte man wachrütteln und erinnern – und damit vor allem auf die Ewiggestrigen und den neudeutschen braunen Geist zielen. Die Grünen, immerhin, haben auf die schnelle eine kleine Feier für den heutigen Abend zusammengebastelt. Gespräche mit Zeitzeugen stehen im Mittelpunkt. Aber sonst: Fehlanzeige.
Die PolitikerInnen winden sich. Aachens First Freidemokratenlady Meike Thüllen beklagt den „verdammten Wahlkampf“ und sagt: „Das Verhältnis zu den Nachbarländern ist so gut, daß es keinen Sinn macht, diese Dinge wachzuwecken. Wir sehen kein Muß, da was aufzuarbeiten aus der Vergangenheit. Wir Liberale sind sowieso mehr zukunftsgerichtet.“ Indes dank Wählers Votum seit Sonntag nicht mehr im Stadtrat.
„Was ist denn am 21. Oktober?“ – Dem Fraktionsvorsitzenden der CDU, Rolf Einmahl, muß erst Nachhilfe in Heimatkunde gegeben werden. „Ach so; nein, als Fraktion gehören wir ja gemeinderechtlich zur Stadtverwaltung. Da ist die verantwortlich.“ Intern gebe es aber „einen Meinungs- und Erfahrungsaustausch mit den älteren Parteimitgliedern“. SPD: „Ach ja, 1944“, stöhnt ein Parteisprecher: „Wir wollen keine Konkurrenzveranstaltung zum Empfang unseres Oberbürgermeisters.“
Es ist nämlich doch noch etwas geplant (gewesen) im OB-Büro. Pünktlich in der Woche vor den Wahlen, hieß es freudig, sei eine bedeutende Kontaktaufnahme gelungen: mit der Frau des US-amerikanischen Gefreiten, der damals als „Parlamentär“ mit der geschulterten weißen Fahne die Aufforderung zur Kapitulation überbracht hatte. Der Mann befinde sich – welch Glück – gerade auf Europa- Trip im Schwarzwald und solle nun am 21. Oktober die Wegstrecke durch die Stadt mit Fahne noch einmal nachgehen.
Doch kaum stand die gute Nachricht am nächsten Tag in der Zeitung, war die Idee mit Fahnenträger Kenneth Kading aus La Grange/Illinois schon wieder Makulatur. Er saß nämlich im Flugzeug nach Hause. Besonders peinlich: Er hatte sogar in Aachen logiert, indes vor drei Wochen und inkognito. Jetzt bleibt es nur bei einem kleinen Empfang mit Gebeten und Ansprachen im Krönungssaal des Rathauses heute nachmittag. Ein Mitarbeiter im OB-Büro sagt bedauernd: „Was an Bewußtseinsbildung in 50 Jahren versäumt worden ist, kriegt man in ein paar Wochen auch nicht mehr hin.“
Winfried Casteel ist Fachbereichsleiter Politische Bildung an der Volkshochschule. Er klagt, bei seiner VHS-Reihe „Denk- Male“ (Vorträge, Ausstellung, Dia- und Filmabende zu Aachen 1933–1944) hätten ihn Politik und Verwaltung allein gelassen: „Wir haben den Fraktionen das Programm im Sommer vorgestellt. Man hat es zur Kenntnis genommen; das war's.“ Casteel nennt das „eine weitgehende Unbedarftheit im Umgang mit Geschichte. Es hat hier schon Tradition, einfach nichts zu machen, genau wie zum 40. Jahrestag auch.“ Jetzt sei in aller Eile die OB-Feierstunde „mit heißer Nadel zusammengestrickt“ worden – Casteel erwartet „ein Höchstmaß an Peinlichkeiten“.
Der Aachener Wehrmachts- Deserteur Stefan Harder (76) schimpft: „Ich als psychopathischer Antifaschist werde für die Befreiung von den Nazis lebenslang dankbar sein. Es ist so verlogen, wie die Leute sich ihre Vergangenheit zurechtbiegen.“ Und es sei „schlimm und beschämend, in welchem geistigen Kostüm sich die Politiker bewegen“. Vor allem, daß keiner den Stefan Heym in Aachen will. Das wäre doch „eine tolle Sache“.
Doch Stefan Heym kommt nicht. Wieso überhaupt der? Weil Heym der wahrscheinlich prominenteste noch lebende Befreier ist, den jeder Aachener Oberschüler, der im Geschichtsunterricht aufgepaßt hat, für das Oberbürgermeisterbüro hätte „namentlich ausfindig machen können“. Der ostdeutsche Schriftsteller, vor den Nazis geflüchteter Jude und engagierter Antifaschist, war als Soldat der US-Armee aus dem Exil zurückgekehrt und damals als einer der ersten im zerbombten Aachen.
Aber Heym, die rote PDS- Socke, einladen? Bei den Grünen gab es wenigstens eine heftige Debatte. „Ich war dafür“, sagt Sprecher Schabram, „ihn als Schriftsteller und Zeitzeugen einzuladen. Aber einen Heym als Spitzenkandidaten der PDS zum Star zu machen, das hätte wochenlang Ärger gegeben.“ Also war die Mehrheit dagegen. Die SPD ist eindeutig: „Kein Thema.“ CDU: „Solche Ideen hat es nie gegeben!“ Das OB-Büro: „Eigentlich eine gute Sache“ – aber was man sich damit mitten im Wahlkampf angetan hätte! Und von Meike Thüllen (FDP) kommt ein lautes „Nein!“ mit nachklingenden mindestens drei Ausrufungszeichen.
So kommt also kein Stefan Heym. Er schrieb einmal über die Zeit kurz vor der Befreiung: „Aachen in den Händen der Amerikaner, der Symbolwert wäre kolossal: Deutscher als Aachen geht's nicht.“
Manchmal denkt man das heute noch. Aber ist Deutschland anderswo weniger deutsch?
Aachen am 21. Oktober 1994 – ein Tag wie jeder andere. Nicht ganz. Im Fußballstadion werden heute abend zehntausend Fans erwartet. Da spielt „Alemannia“ gegen „Arminia“.
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