: Singende Schwester Kindergärtnerin
■ Lucielectric nach Viva-Dauereinsatz tatsächlich Bestseller für kleine Mädchen
„Ist das Glas halb voll oder halb leer?“ lautet die Standardfrage, an deren Antwort man Opti- von Pessimistinnen unterscheiden kann. Man muß kein Pessi- mist sein, um festzustellen, daß das Modernes am Donnerstag zum „Lucilectric“- Konzert zu drei Vierteln leer gewesen wäre, wenn nicht die meisten Besu- cherinnen zumindest einen Elternteil mitgebracht hätten. Das Angebot, die ersten hundert Jungs in weiblicher Begleitung umsonst reinzulassen, hatte keine großen Auswirkungen. So drängten sich vor der Bühne aufgeregte Kinder- scharen, blieb die bestuhlte Saalmitte leer, und tummelten sich die Eltern in mißtrauischer Distanz an der hinteren Theke. „Mich reizt nichts an ,Lucilectric , sagt eine Mutter mit leicht abschätziger Miene. Sie sei nur wegen ihrer Kinder „zwischen 12 und 14“ hier, was ungefähr dem Durchschnittsalter unter den Freiwilligen entsprach. Mit 16 gehörte man schon zu den Älteren, die Jüngsten waren dem Grundschulalter noch nicht entwachsen.
Die Zielgruppe konnte der jauchzenden und kieksenden Lucy van Org natürlich mehr abgewinnen. „Ich find die einfach stark!“ schwärmt die i2jährige Julia, und nach einigem Gedruckse und Gekichere gesteht ihre gleichaltrige Freundin Sarah, besonders „die Texte“ zu mögen.
Die Texte konnten dann auch alle mitsingen, als die Band pünktlich die Bühne betrat und erstaunlich früh ihren Hit „Mädchen“ spielte, der sich im Sommer nach zermürbenden „Viva“-Dauereinsatz tatsächlich vom Ladenhüter zum Verkaufsschlager gemausert hatte. Mit einer LP und einem Hit kann man kaum ein Konzert bestreiten, und so spielte man die Singles jeweils zweimal und stopfte hier und da neues Material in die Lücken. Dieses neue Material wurde genauso beklatscht und bekreischt wie das bekannte, was wohl daran lag, daß es ge- nauso klang. Die Band spielte die Pop-Melodiechen mit Schlager- und Rock- Versatzstücken kompetent und belanglos, als würden sie einen LBS-Werbespot un- termalen. Das musikalische „Lucilectric“-Mastermind Ralf Goldkind zupfte seine Gitarre mit geschlossenen Augen so gedankenverloren, als wünschte er sidi seine früheren Arbeitgeber „Crime and the City Solution“ und ,,Rausch“ zurück, mit denen er früher vor Volljährigen spielte.
Als Frontfrau van Org das letzte „Mä-hä-hä-hädchen“ geschmettert wurde, zerrte man flink alle greifbaren Exemplare auf die Bühne, wo sie unerwartet unbekümmert hüpften und sangen. Lucy, die singende Kindergärtnerin, kann eben gut mit Kindern.
Da wissen Eltern ihre Sprößlinge in guter Obhut.
Einige Eltern waren dann sogar zum Klatschen nach vorne gekommen. Unter ihnen trugen Vereinzelte „Guns'n'Roses“-T-Shirts. Was ist bloß aus dem guten, alten Generationskonflikt geworden?
Andreas Neuenkirchen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen