: Wachstumsoptimisten beglücken Kohl
Herbstgutachten prognostiziert anhaltenden Wirtschaftsaufschwung ■ Aus Bonn Erwin Single
Gute Nachrichten für die Regierung Kohl: Die Rezession ist überwunden, die Aussichten für einen auch nächstes Jahr anhaltenden Aufschwung sind günstig. 1995 soll die Wirtschaft wieder um 3 Prozent zulegen — nach unerwarteten 2,5 Prozent in diesem Jahr. So jedenfalls lautet das Fazit des Herbstgutachtens, das die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute gestern präsentierten.
Die Bilanz von 1994 mit einem Wachstum der deutschen Wirtschaft von 2,5 Prozent fällt um so überraschender aus, als dieses Jahr nicht gerade ein konjunkturelles Jubelereignis zu werden versprach. Ausschlaggebend für die gute Lage, so die Wirtschaftsprofessoren, seien vor allem die verbesserten Rahmenbedingungen gewesen. So habe der durch eine anziehende Konjunktur expandierende Welthandel sowie der moderate Aufschwung in Westeuropa zu einer „lebhaften Zunahme“ der deutschen Exporte geführt. In Deutschland verbesserten die moderaten Lohnabschlüsse und die niedrigen Zinsen die Voraussetzungen für einen Anstieg der Investitionstätigkeit. Daß Prognosen jedoch nicht gerade zu den Stärken der Ökonomen zählen, belegen die neuen Zahlen. Mußten doch die Konjunkturapostel die in ihrem Frühjahrsgutachten erstellten Erwartungen (plus 1,5 Prozent) deutlich nach oben korrigieren.
Auch wenn sich die Prognostiker zu noch so optimistischen Voraussagen verleiten lassen, die Arbeitslosenzahlen geben weiterhin wenig Anlaß zur Hoffnung: Mit 3,6 Millionen Erwerbslosen wird die Beschäftigung auch im kommenden Jahr nur leicht zulegen. 200.000 neue Arbeitsplätze, so die Experten, könnten vor allem im Dienstleistungsbereich und den klassischen Investitionsgüterbranchen wie dem Maschinenbau entstehen — vorausgesetzt, die Rahmenbedingungen bleiben stabil. Hier droht laut den Konjunkturforschern gleich mehrfach Ungemach: die steigende Abgabenquote (44,5 Prozent des BIP machen die Belastungen mit Steuern und Sozialausgaben aus), wieder anziehende Zinsen sowie neue Begehrlichkeiten der Gewerkschaften in der nächsten Tarifrunde.
Den Wachstumsoptimismus der Kollegen will man beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) auch diesmal nicht teilen. Das DIW rechnet sogar mit einer Abschwächung des Wirtschaftswachstums auf 1,5 Prozent. Dabei erweist sich die schwächere Kaufkraft vieler Haushalte und die dadurch gebremste private Konsumnachfrage weiter als Archillesferse des Aufschwungs. Nicht zuletzt wegen der zum Jahresanfang '95 steigenden Steuern und Abgaben rechnen die DIW-Experten mit einem weiteren Nachfrageeinbruch. Auch die seit Jahresbeginn gestiegenen Kapitalmarktzinsen werten die Gutachter als Risikofaktor, zumal sie diesmal schneller und deutlicher anzogen als in früheren Aufschwungphasen. Außerdem, so die DIW-Experten, seien durch die Zinswende in den USA auch die letzten Investoren auf den Konjunkturzug aufgesprungen, nicht wenige hätten dabei längerfristig geplante Projekte einfach vorgezogen. Hier wird entscheidender Dissens zu den anderen Instituten deutlich: Erklären diese die Zinswende als Folge des Aufschwungs, so sehen die DIW-Experten in ihr den Auslöser für den Konjunkturumschwung. Setzen die übrigen Ökonomen weiter auf eine rigide Geldpolitik, so plädiert das DIW dafür, nicht in den von den Amerikanern vorgegebenen Zinszyklus einzusteigen. Das DIW bleibt auch dabei, daß die finanziellen Belastungen der deutschen Einheit nicht nur mit einem rigiden Sparkurs, sondern mit einer gemischten Strategie aus Steuererhöhungen, Senkung der Sozialbeiträge und Ausgabenkürzungen bewältigt werden sollten. Zu den immer wieder ähnlichen, aber stets verblüffenden Reaktionen, die das Gutachten auslöste, gehört die selbstgefällige Feststellung der Bundesregierung, der eigene Kurs werde wieder einmal von kompetenter Seite bestätigt. So meint Wirtschaftsminister Günter Rexrodt, das Gutachten bekräftige „voll unsere Wirtschaftspolitik zur Sicherung des Standorts Deutschland“.
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