: Gefährliche Nachahmungen
■ Gespräch mit dem Vizechef der "Zentralstelle für Jugendsachen" über die Ursachen der S-Bahn-Überfälle: Latent gewaltbereite Jugendliche werden auch von den Medien animiert
Warum werden derzeit fast täglich Menschen in der S-Bahn überfallen? Weil ein Täter durch die Medien den nächsten animiert? „Gewalt hat viele Ursachen, aber die Nachrichten über Gewaltakte können Auslösecharakter haben“, weiß Wolfgang Zirk, stellvertretender Leiter der polizeilichen „Zentralstelle für Jugendsachen“. Die „Zentralstelle“, früher „AG Gruppengewalt“, versucht seit fünf Jahren Jugendgewalt und Jugendkriminalität präventiv zu bekämpfen. „Latent gewaltbereite Jugendliche“, so der Vizechef über seine empirischen Erkenntnisse, „suchen sich gerne Berichte aus, in denen Konflikte mit Gewalt gelöst werden“. Zeitungsnotizen, schränkt er ein, seien dafür allerdings weit weniger geeignet als Nachrichtenbilder, sprich: das Fernsehen.
Daß einer den anderen ansteckt, ist natürlich keine brandneue Erkenntnis. Schon zu Goethes Zeiten verführte dessen junger Werther eine ganze Reihe von liebeskranken Menschen dazu, ihrem literarischen Vorbild zu folgen und sich umzubringen. Im Medienzeitalter aber entstünden solche gefährlichen Moden noch viel schneller, so Wolfgang Zirk weiter: „Wenn einer sich in auffälliger Weise selbst tötet, zum Beispiel vom Hochhaus springt, dann können wir fast sicher sein, daß wir wenig später gleichlautende Fälle haben.“ In ähnlicher Weise hätten die Pogrome von Hoyerswerda als Auftakt für eine Welle rechtsradikaler Gewalt gewirkt. Ein anderes Beispiel habe Harry Deppendorf, Professor an der Humboldt-Universität, in einer Studie dokumentiert: Je mehr Gewalt in einer Schule auftritt, desto mehr bewaffnen sich die Schüler, desto häufiger werden Konflikte dann wiederum per Gewalt ausgetragen.
Wie kann man solche Teufelskreise stoppen? Die Medien könne man ja schwerlich ändern, meint Zirk. Der Polizist, der mit seinen Mitarbeitern Veranstaltungen in Schulen abhält und dort mit Lehrern, Eltern und Schülern diskutiert, verspricht sich mehr Erfolg davon, daß Jugendliche mit brutalen Bildern anders umgehen lernen. „Eltern sollten sich Gewaltfilme zusammen mit ihren Kindern anschauen und die Bilder zusammen aufarbeiten.“ Wie sehr Kinder und Jugendliche sich vom Fernsehen abhängig machen, habe ihm wieder der Leiter einer Neuköllner Grundschule mit einem kleinen Beispiel verdeutlicht: „Ich mußte noch den Videofilm zu Ende gucken“, hatte sich ein kleiner Junge für sein Zuspätkommen entschuldigt. Mit anderen Worten: Die Gewaltfilme und Pornos, die die Eltern nachts aufnehmen, werden am nächsten Morgen im Kinderzimmer konsumiert. Also in einem Lebensalter, in dem das Gewissen als innere Handlungsanleitung entscheidend geformt wird. „Die Gewissensbildung“, sagt Zirk, „ist mit zehn Jahren weitgehend abgeschlossen.“
Vor diesem Hintergrund ist es dann nicht mehr verwunderlich, daß Jugendarbeitslosigkeit keine direkte Ursache für Jugendgewalt ist. 69 Prozent der meist männlichen Gewalttäter, zitiert der Polizist aus einer weiteren Studie, seien noch in der Schule, 18 Prozent seien Auszubildende, fünf Prozent arbeiteten in Gewerbeberufen und nur weitere fünf Prozent seien arbeitslos. Entscheidender, meint Zirk, sei wohl die Perspektivlosigkeit, die viele junge Menschen empfänden.
Die daraus entstehende latente Gewaltbereitschaft wird dabei durch eine indifferente Umwelt noch verstärkt. „Eine Gesellschaft muß Leitplanken aufstellen“, findet Zirk. „Nicht harte Strafen aussprechen, aber Reaktion zeigen. Jugendliche müssen ihre Grenzen ausloten, Erwachsene müssen Grenzen aufzeigen.“ Ute Scheub
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