: Mythen und Legenden vom Berliner Untergrund
■ In einem Bunker unter dem ehemaligen Wilhelmplatz: Durchgang zum „Bahnhof Kaiserhof“ und Hinweise gegen „Feuersturm“ / Forscher wollen Mythen knacken
Als er hier zum ersten Mal einstieg, sagt Thomas Wenzel, habe eine kleine Erschütterung gereicht, um einige Räume entfernt mehrere Lüftungsrohre zum Absturz zu bringen. Man sei also gut beraten, mit der Lampe wechselweise den Tunnelboden und die Gewölbedecke zu beleuchten. Im Raum gegenüber befindet sich in Menschenhöhe ein Überdruckventil gegen Bombentreffer. Neben den Kohlefiltern gegen Giftgas ein sicherer Hinweis auf einen Bunker, meint Wenzel.
Unter dem einstigen Berliner Regierungsviertel an der Wilhelmstraße gibt es so viele Bunker wie andernorts Keller. Jener, in den wir hinabsteigen, liegt am ehemaligen Wilhelmplatz und ist bislang nicht erforscht. Man wähnt sich auf geheimnisvollem, neu entdecktem Terrain und weiß doch, daß der Aufenthalt in diesen Tunnels einst zum Berliner „Alltag“ gehörte. Während Arnold die Räume der Bunkeranlage vermißt, arbeiten wir uns mit einem Fototeam durchs Labyrinth. Von den Decken hängen Tropfsteine oder Luftwurzeln, an den Wänden kleben vergilbte Schilder: „Fluchtweg bei Feuersturm“. Nach einem Mauerdurchbruch ist die Odyssee vorerst zu Ende. Vor uns der Durchgang zum ehemaligen U-Bahnhof Kaiserhof (heute Mohrenstraße), benannt nach dem gleichnamigen Hotel am Wilhelmplatz, in dem die Führungsspitze der NSDAP bereits vor 1933 Quartier genommen hatte. Hinter dem Durchgang steht Grundwasser.
„Die meisten Bunkerfreaks“, meint Thomas Wenzel, „haben mit der Historie nichts am Hut.“ Anders die Arbeitsgemeinschaft. Unterstützt von den Behörden suchen sie nicht nur auf Luftbildern nach Bunkeranlagen und möglichen Zustiegen, messen aus und fertigen Gutachten an, sondern wollen die Erforschung der U-Anlagen auch als Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Geschichte verstanden wissen. „In den Bunkern“, sagt Wenzel, „haben eben nicht nur die Berliner Zuflucht gesucht, sondern dort arbeiteten, wie etwa in den ,Katakomben‘ unter dem Flughafen Tempelhof, Kriegsgefangene unter unmenschlichen Bedingungen an der unter die Erde verlagerten Kriegsproduktion.“
Für Wenzel und Arnold ist die Arbeit im Berliner Untergrund auch ein Beitrag zur Kultur des Erinnerns. Einen Kult wollen sie daraus nicht machen. Im Gegenteil. Es geht ihnen nicht zuletzt darum, die Mythen der unterirdischen Stadt zu knacken. Ein schwieriges Unterfangen, schließlich ist die Gefahr der Legendenbildung gerade im Berliner Untergrund besonders groß. Das bislang hartnäckigste Tunnelgarn, das an der Spree gesponnen wird, betrifft eine „unterirdische Fahrstraße“ von Schönefeld bis zum Reichstag, auf der schließlich die Panzer der Russen im April 1945 angerückt seien. Genauso Quatsch, sagt Wenzel, wie das Gerücht, daß die Baugrube unter der Neuen Reichskanzlei 40 Meter tief gewesen sei.
Ohne Spannung und Geheimnis geht es nicht. Noch immer nämlich sucht Thomas Wenzel nach dem Zustieg für die U-Anlagen unter dem Weinbergspark in Mitte. Vor fast zehn Jahren hatte er im strömenden Regen gesehen, wie ein Arbeiter eine Ankerstange in den Boden schlug und das knöcheltiefe Regenwasser sofort abfloß. „Wohin“, vermutet Wenzel, „wenn nicht in die Weinkeller des alten Weinbergs.“ Uwe Rada
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen