: Die Geister sind gerufen
■ „Lebensfreude '94“: Engel und Außerirdische, Tarot und Tibetica, Channeling und Compuskop
Empfindsame Seelen spüren es bereits: Ein knisterndes Geflecht kosmischer Energiefäden zieht sich in diesen Tagen über Hamburg zusammen. Im Epizentrum: das Curio-Haus an der Rothenbaum-chaussee, vom 4. bis zum 6. November Veranstaltungsort der „Lebensfreude '94“, Messe und Kongreß für Natur, Gesundheit und Esoterik.
Drei Tage lang, so das Programmheft, werden „zahlreiche Geistheiler, Engel und Außerirdische“ Tür an Tür feinstofflich channeln, rückführen und Blockaden lösen, werden über 100 Aussteller Tarot und Tibetica neben Klangschalen und Kosmetika gegen eher grobstofflich Bares feilbieten.
Die „wiederentdeckten Lehren der atlantischen Meister“ in Raum 9 stehen in sanfter Konkurrenz zu den „aktuellen Lehren der aufgestiegenen Meister“ an Stand 71, das gute alte „intuitive Kartenlegen“ muß sich an der update-Version des „Compuskops“ messen lassen. „Die Szene ist schnellebiger geworden.“ kommentiert Frauke Leopold die Entwicklung im Esoterikbereich. Mit ihrer „centurion light“-Agentur zeichnet sie bereits zum sechsten Mal für die Messe- und Seminarorganisation der „Lebensfreude“ verantwortlich.
Auch dieses Jahr werden bei Eintrittspreisen zwischen sieben und zehn Mark mindestens 5000 Besucher erwartet. Mit ähnlichen Zahlen können auch die Zürcher „Lebenskraft“ und die Münchener – nein, nicht „Lebenssaft“ sondern schlicht „Esoterik-Tage“ – aufwarten. Kein Wunder, daß viele Aussteller auf größere Flächen und einen stärker verkaufsorientierten Rahmen wie in den Messehallen drängen, auch wenn die Standmiete im Curio-Haus mit 118 Mark pro Quadratmeter eher zivil kalkuliert ist. Frauke Leopold will trotzdem an ihrem Konzept einer Informationsveranstaltung mit programmatischen Schwerpunkten festhalten.
Auch als Forum für Sektenagitation will Leopold die „Lebensfreude“ nicht mißbraucht wissen und praktiziert deshalb mit sicherer Szenekenntnis im Curio-Haus den „Numerus clausus“.
„Esoterik ist längst keine Geheimwissenschaft mehr“, so Leopold, vielmehr führe das Streben nach „ganzheitlicher Gesundheit“ und „Sinnsuche“ ein „buntgemischtes Publikum“ in die Seminare und Ausstellungsräume. Also trotz schwieriger Worte wie „Nahtoderlebnis“ und „Obertonsingen“ kein „In-Treff“ für Eppendorfs gehobenen Bildungsmittelstand, denn „Vergeistigung hängt ja nicht unbedingt von der Intellektualität ab.“
So frequentieren die „Lebensfreude“ denn auch VeteranInnen früherer Hermann-Hesse-Lesekreise einträchtig neben Managern, die in der „Großen Gruppenheilung“ von Eli Lasch eher die Schnellreparatur ihrer Wirbelsäulenblockade erwarten. Das ganztägige „Lösen emotionaler Blockaden“ dagegen, wie es Ex-Schlagerstar Penny McLean zu 150 Mark pro TeilnehmerIn anbietet, wird nach den Erfahrungen von Frauke Leopold „zu 80 Prozent“ von Frauen belegt werden.
Wer also die Barriere der Anonymität zwischen sich und seinem Schutzengel endlich durchbrechen will oder vorwitzig vorzeitigen Kontakt zum Jenseits nicht scheut, wird sich auf der “Lebensfreude '94“ auf jeden Fall gut aufgehoben wissen. Heinz-Günter Hollein
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