: „In der Natur fällt jede Depression ab“
Naturführer durch Südwestdeutschland für Behinderte, aber nicht nur für sie ■ Von Joseph Weisbrod
„Da manövrierst du auf einem schmalen Steg, der gerade mal ein paar Zentimeter breiter ist als dein Rolli, paßt höllisch auf, um nicht rechts oder links ins Moor zu kippen – und stoppst schweißgebadet vor einer Leiter, die dir den Zugang zu der begehrten Aussichtsplattform verwehrt.“ Solche Erfahrungen sammelte Manfred Schmid bei rund 130 Exkursionen kreuz und quer durch Nordbaden, Südhessen und die Pfalz, um sie anderen Mobilitätsbehinderten zu ersparen. Das Ergebnis mehr als zweijähriger empirischer Naturerforschung: ein beispielhaftes Buchprojekt, für das es bundesweit kein Vorbild gab. Der 32 Jahre junge gebürtige Allgäuer war, unter schreibender und (an-)treibender Mithilfe des kürzlich verstorbenen Mannheimer Journalisten Dieter Preuss, „verrückt genug, diesen Job zu übernehmen“.
Wie Projektleiter Manfred Schmid – unterstützt von Herausgeber Elias Bendahan, vom Roll In e.V., dem Mannheimer Krempelmarktkomitee und dem BUND/ Mannheim – „dieser Job“ gelungen ist, kann nun jeder Behinderte vor Ort nachvollziehen. Halt! Einspruch des Hauptautors beim Gespräch in seiner Mannheimer Wohnung. Der Buchtitel „Natur erleben: mit dem Rollstuhl unterwegs“ hätte nach Schmids Ansicht ebensogut „Natur erleben: mit dem Kinderwagen, mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs“ lauten können. Ein Wegweiser also auch für sogenannte Nichtbehinderte. Doch für Menschen mit dem Handikap, von einem Rollstuhl abhängig oder gehbehindert zu sein, ist dieser Naturführer besonders wertvoll.
So enthalten die Kurzporträts der nach ökologischen Gesichtspunkten ausgesuchten 99 Naturziele im Rhein-Main-NeckarRaum, rund um Mannheim und Heidelberg, im Kraichgau, in Südhessen, im Odenwald und im Pfälzerwald durchweg praktische Tips für Mobilitätsbehinderte: zum Beispiel über Zeitaufwand pro Strecke, Wegbeschaffenheit, Steigungen, Hindernisse, Behindertentoiletten, die Zugänglichkeit von Aussichtsplattformen. Sehr nützlich sind die Piktogramme, die signalisieren, ob eine Strecke ohne oder mit Begleitperson gemeistert werden kann. Im Anhang finden sich darüber hinaus Verzeichnisse mit öffentlichen Behindertentoiletten sowie überwiegend rollstuhlfreundlichen Gaststätten, Hotels und Pensionen.
Über diese spezifischen Informationen hinaus hat der handliche Naturführer seine Stärken in der sachkundigen und schnörkellosen Würdigung der Ausflugsziele, zumeist Natur- und Landschaftsschutzgebiete. Durch die Beschreibung zieht sich wie ein roter (oder grüner) Faden der ökologische Anspruch dieses Projektes: nämlich die bei den Stadtmenschen häufig abgestumpften Sinne für Zusammenhänge in der Natur zu schärfen.Daß diese Begegnung mit der Natur, die mit Fernglas, Pflanzen- und Tierbestimmungsbuch noch vertieft werden kann, nicht zu deren Lasten gehen soll, ist für Manfred Schmid selbstverständlich. Sein diesbezüglicher Appell an die Rolli-Kollegen gipfelt in der Bitte: „Achtet darauf, daß alle Schrauben angezogen sind und nicht zu laut klappernde Geräusche des Rollstuhls alle Vögel auffliegen lassen.“ Und wie erreicht man die badischen, pfälzischen und südhessischen Naturrefugien am besten? Der bekennende Kartenfreak Schmid hat auch dieses Problem gelöst. Insgesamt siebzig Karten, in denen die entsprechenden Gebiete und Anfahrtswege farblich eingezeichnet sind, dienen als zuverlässiger Kompaß für Ortsunkundige.
Aber was soll man in der bevorstehenden naßkalten Jahreszeit mit einem solchen Naturführer? Die Ausrede gilt nicht. Denn die meisten Wanderungen können ganzjährig, also auch im Herbst und Winter, unternommen werden. So hat der Verfasser, durch eine seltene Krankheit seit zehn Jahren auf den Rollstuhl angewiesen, viele seiner schönsten Erkundungstouren im Winter unternommen. „Wenn ich mich in der Natur aufhalte, fällt jegliche Depression von mir ab wie das Laub im Herbst.“
Manfred Schmid: „Natur erleben: mit dem Rollstuhl unterwegs. Wegweiser zu badischen, pfälzischen und südhessischen Zielen für Mobilitätsbehinderte“. Herausgeber: Elias Bendahan. Hüthig Verlag, Heidelberg 1994, 282 Seiten, kartoniert, 24,80 DM
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