piwik no script img

Der trainierte Geist bleibt jung

Immer mehr Senioren finden den Mut, ein Studium zu beginnen / In Berlin hat sich die Zahl der Grauen Panther im Hörsaal verzehnfacht / Im Alter sind Geisteswissenschaften en vogue  ■ Von Miriam Hoffmeyer

Die Neugier treibt sie um, „die große Neugier auf alles, was man wissen kann“. 1981 hat Frieda Kohn ihren Streifzug durch die Berliner Universitäten begonnen. Jetzt, mit 76 Jahren, besucht sie die philosophische Ringvorlesung und das dazugehörige Seminar an der Humboldt-Universität zu Berlin. „Ich bin nun in dem Alter, wo man sich für Philosophie interessiert“, sagt sie. „Man hat viel Lebenserfahrung und möchte die Dinge weiterdenken.“

Am liebsten wäre Frieda Kohn Lehrerin geworden. Aber die Eltern nahmen sie nach der mittleren Reife von der Schule. „Ein Studium hätten sie mir nicht erlaubt, ich sollte einen vernünftigen Beruf lernen.“ Das junge Mädchen lernte Buchführung, heiratete und wurde Hausfrau und Mutter. Ihr erstes Semester erlebte sie erst mit 63 Jahren. Zwei Jahre lang studierte sie als Gasthörerin Pädagogik, Psychologie und Soziologie an der Freien Universität, dann hörte sie von einem neu eingeführten Studium speziell für ältere Menschen.

BANA, das „Berliner Modell Ausbildung für nachberufliche Arbeitsbereiche“ an der Technischen Universität, ist in Deutschland einzigartig. In vier Semestern können sich Menschen ab 45 in drei Bereichen qualifizieren: Ökologie, Ernährung und soziale Kommunikation. Das erworbene Wissen geben sie später in Vorträgen oder auch als Volkshochschullehrer an die BürgerInnen weiter. Die Nachfrage nach den 30 Plätzen pro Semester ist in den letzten Jahren stark gestiegen, berichtet Ulrike Strate-Schneider, die BANA organisiert. „Es bewerben sich sehr viele Vorruheständler aus dem Ostteil der Stadt. Da ist ein Bedürfnis, nicht einfach abgeschoben zu werden, sondern noch etwas Nützliches zu tun.“

Frieda Kohn spezialisierte sich bei BANA auf Umweltberatung. „Ich denke, daß die Älteren, die die Umwelt verschmutzt haben, das auch wieder in Ordnung bringen müssen“, findet sie. Noch heute ist sie mit jungen Kommilitonen von damals befreundet. Denn die BANA-Studenten besuchen ganz normale Vorlesungen und Seminare an der TU, beispielsweise in Chemie, Ökotrophologie oder Architektur. „Wenn die Studenten merken, daß man die gleiche Leistung bringt, wird man akzeptiert“, sagt Frieda Kohn. Das hat auch die 69jährige Anneliese Hannemann erfahren, die heute im BANA- Stadtteilladen in Neukölln arbeitet: „Die jungen Studenten waren sehr interessiert an uns – und wir konnten viele Erfahrungen beisteuern.“ Unterdessen wirbt Frieda Kohn mit einer Berliner Akademie für weiterbildende Studien unter ihren AltersgenossInnen für „Nachwuchs“: „Wir wollen die Schwellenangst abbauen. Viele waren ja noch nie an der Uni.“

Aber auch viele pensionierte AkademikerInnen zieht es in die Hörsäle. Die meisten studieren geisteswissenschaftliche Fächer wie Sprachen, Kunstgeschichte, Germanistik oder Soziologie. Fächer mit rigidem Stundenplan sind dagegen erwartungsgemäß unbeliebt. Die Zahl der studierenden Senioren ist in den letzten Jahren enorm angewachsen. Noch 1988 waren an der FU nur 23, an der TU sogar bloß vier Studenten über 58 immatrikuliert. Inzwischen sind es zehnmal so viele.

Nach und nach gewöhnen sich die Professoren an die betagten StudentInnen in ihren Seminaren. „Gescheit, sympathisch und sehr motiviert“ seien die beiden älteren Damen in seinen Veranstaltungen gewesen, sagt der Jura-Professor Uwe Wesel. Ganz wie die anderen Studenten mochte er sie allerdings nicht behandeln. Er hätte sie in den Übungen nie aufgerufen – „wenn sie die Antwort nicht gewußt hätten, wäre das vielleicht peinlich geworden vor den jüngeren Studenten“. Zum späten Studium gehört Mut. Aber offensichtlich haben immer mehr ältere Menschen die Energie, etwas Neues anzufangen. „Es war großartig, nochmal zu studieren, ich fand's wunderbar“, schwärmt die ehemalige Deutschlehrerin Gisela Burmeister, die es im Zweitstudium nach der Pensionierung bis zur Altgriechisch-Tutorin brachte. Und auch Frieda Kohn genießt die eigene Neugier immer noch in vollen Zügen: „Solange man den Geist trainiert, fühlt man sich jung!“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen