: Potemkinsches Dorf auf Oberbaumbrücke
■ Diepgen eröffnet die Brücke mit einer Straßenbahnfahrt, obwohl dort gar keine Tramverbindung mehr vorgesehen ist
Die Schleuse für die Blechlawine wird mit einer an Volksverdummung grenzenden Polit-Show geöffnet: Die für den geschichtsträchtigen 9. November geplante Öffnung der Oberbaumbrücke werden Eberhard Diepgen, Bausenator Wolfgang Nagel sowie die Bezirksbürgermeister Helios Mendiburu und Peter Strieder mit einer Straßenbahnfahrt vollziehen. Auf der Kreuzberger Seite der Brücke steigt die politische Ehrenformation in eine Straßenbahn, die eigens für die PR-Aktion mit einem Kran in die Gleise gehoben wird. Damit tuckern Diepgen und Co – so sieht es der interne Ablaufplan des Senats vor – in Richtung Friedrichshain zur Brückenmitte, wo sie mit voraussichtlich langanhaltendem Lächeln das über die Fahrbahn gespannte Band zerschneiden. Dazu intoniert das legendäre BVG-Orchester die Nationalhymne.
Ein Grusel-Stück mit einem öffentlichen Verkehrsmittel, das auf der Oberbaumbrücke womöglich nie zum Einsatz kommen wird. Die Ost-West-Tramverbindung war zwar ursprünglich geplant, ist aber inzwischen wieder vom Tisch gefegt worden. So hat die Senatsbauverwaltung die Gleise extra für die Eröffnungsfeier verlegen lassen.
Trotz massiver Proteste wächst in neun Tagen rund um die Oberbaumbrücke zusammen, was zusammengehört – im Stau. Das für rund 70 Millionen Mark sanierte und asphaltierte Bauwerk ist die letzte Lücke im 18 Kilometer langen „Inneren Stadtring“, der die Bezirke Tiergarten, Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Kreuzberg verbindet. Wie auf den übrigen Streckenteilen sollen die Fahrzeuge in vier Spuren über die Brücke rollen. Der Ring soll den Bezirk Mitte vom Durchgangsverkehr entlasten. Statt durch das künftige Politikerreservat sollen die Autos durch Wohngebiete kurven. Frei nach dem Motto: verkehrsmäßiger Friede den Palästen, Autokrieg den Hütten.
Regelmäßige Sendezeit im Verkehrsfunk dürfte der Oberbaumbrücke jetzt schon sicher sein. Insgesamt 53.800 Fahrzeuge werden die Ost-West-Verbindung nach Schätzungen der Verkehrsverwaltung täglich passieren. In den Stoßzeiten werde stündlich mit bis zu 5.500 Autos gerechnet, sagt Karl Hennig, Leitungsreferent bei Verkehrssenator Haase (CDU).
Mit Blick auf die zu erwartende Blechlawine befürchtet nicht nur Kreuzbergs Baustadträtin Erika Romberg (Bündnis 90/Die Grünen), daß die vielen verkehrsberuhigten Straßen am Schlesischen Tor zu Schleichwegen für staugeplagte Autofahrer werden. Dem chronisch klammen Bezirk sind jedoch die Hände gebunden: „Wir können nur ein paar Blumenkübel durch die Gegend schieben“, klagt Romberg. Beispielsweise plane der Bezirk in der Wrangelstraße, in der Tempo 30 vorgeschrieben ist, solche Hindernisse aufzustellen.
Indes wurde die Oranienstraße quasi über Nacht schon mal zur Rennstrecke ausgebaut. Den Abschnitt von der Skalitzer Straße bis zum Oranienplatz säumen seit Anfang Oktober Halteverbotsschilder, die tagsüber nur noch Lieferanten den schnellen Stop zum Be- und Entladen erlauben. Offiziell soll die von Haase angeordnete Beschilderung Bussen den üblichen Dauerslalom ersparen. Daran glaubt unter den Anwohnern wegen der zeitlichen Nähe zur Brückenöffnung fast niemand.
Doch Bürgerinteressen scheren die Verkehrsplaner ohnehin nicht. Weder Bürgerbeteiligung noch ein Planfeststellungsverfahren seien für ein solches Bauvorhaben erforderlich, meint Hennig lapidar. Das Projekt sei kein Neubau, sondern „die Inbetriebnahme einer bereits gewesenen Straßenverbindung“. An der beinharten Linie hielt der Senat fest. Demonstrationen und Tausende von Unterschriften brachten nichts. „Wie eine Dampfwalze“, so Johannes Pernkopf von der Stadtteilinitiative „SO 36“, habe die Große Koalition den Widerstand überrollt.
„Der Kiez kommt buchstäblich unter die Räder“, so Pernkopf. Viele Familien seien weggezogen oder suchten noch nach einer neuen Bleibe. Ein Kinderladen am Schlesischen Tor habe bereits dichtgemacht. Dagegen werden die knapp 200 Kids der Kita in der Schlesischen Straße 3-4 demnächst von Blech eingeschlossen sein. Die Leiterin des Horts, Marina Kietzmann, stieß mit ihren Klagen und Forderungen nach Abgasmessungen „überall auf taube Ohren“. Diejenigen, die satte 70 Millionen Mark für den Brückenbau lockermachten, speisten sie mit den Worten ab: „Ach, das kostet doch soviel.“ Frank Kempe
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