: Indizien, aber keine Beweise
Ob das AKW Krümmel Leukämie auslöste, ist noch immer nicht eindeutig geklärt ■ Von Jürgen Voges
Einen schier verzweifelten Sozialminister erlebte die jüngste und wohl nicht letzte Debatte des niedersächischen Landtags über die Häufung von Leukämiefällen in der Elbmarsch. Das Problem bestehe darin, so Walter Hiller (SPD), daß es auch nach drei Jahren wissenschaftlicher Untersuchungen nur Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen dem Atomkraftwerk Krümmel und der erhöhten Blutkrebsrate in seiner Umgebung gebe – Beweise jedoch nicht. Noch immer fehlt deshalb der erhoffte Hebel für die Stillegung des Meilers.
Hillers Problem wird wohl ungelöst bleiben, selbst wenn die Kommissionen Niedersachsens und Schleswig-Holsteins ihre Arbeiten 1995 abschließen. Enttäuscht wird auch ein wissenschaftsgläubiges Publikum, das von jeder einzelnen Untersuchung Schuld- oder Freispruch des AKWs erwartet. Selbst ein Wissenschaftler wie der Münchner Biochemiker Roland Scholz, in der schleswig-holsteinischen Kommission, erwartet das entscheidende Ergebnis nicht mehr: „Wir tragen Mosaiksteine zusammen, die dann gemeinsam ein Bild ergeben.“ Nach Ansicht von Professor Scholz gibt es allerdings ein Dutzend das AKW belastender Indizien, und er persönlich sieht sie als ausreichend an für einen „Schuldspruch“. In den Kommissionen aber sind diese Indizien strittig.
Die 30 WissenschaftlerInnen sollten klären, ob die EinwohnerInnen der Gemeinde Elbmarsch in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre einer erhöhten Strahlenbelastung ausgesetzt waren. Im Mittelpunkt stand dabei die „biologische Dosimetrie“: Jene Suche nach Chromosomenveränderungen in Blutzellen, sogenannten dizentrischen Chromosomen, die auf ionisierende Strahlen zurückgehen.
Als erste hatte die Bremer Wissenschaftlerin Inge Schmitz-Feuerhake im Jahre 1991 bei fünf gesunden Geschwistern leukämiekranker Kinder eine erhöhte Zahl dizentrischer Chromosomen festgestellt, ebenso im Jahre 1992 bei der Untersuchung von fünf Erwachsenen. Um die Ergebnisse abzusichern, wurde eine Studie mit 42 Kindern aus der Elbmarsch und 30 Kindern aus dem Landkreis Plön in Schleswig-Holstein als Vergleichsgruppe gestartet. Das unerwartete Ergebnis: Bei Plön lag die Rate der dizentrischen Chromosomen mit 0,7 pro tausend Zellen um 50 Prozent höher als in der Elbmarsch. Daraufhin sprach das niedersächsische Sozialministerium kürzlich erst von schlampigen Untersuchungen der ehemaligen Außenstelle des Bundesgesundheitsamtes in Berlin-Karlshorst.
Die Suche nach dizentrischen Chromosomen, nach Erbfäden also, die während der Zellteilung nicht an einem, sondern zwei Punkten verbunden sind, erfordert große Sorgfalt. Für die Untersuchung der Präparate sind unter dem Mikroskop die Chromosomen von etwa 1.300 Zellen, also rund 60.000 Erbfäden in Augenschein zu nehmen. Dabei kommt es auf jeden einzelnen Defekt an. Denn bei gesunden Erwachsenen gelten im Mittel 0,4 dizentrische Chromosomen auf 1.000 Zellen als normal. Die drei beteiligten Labore mußten jedes einzelne entdeckte „Dic“ später von Sachverständigen anerkennen lassen.
Schon bei dieser Überprüfung schnitt das Berliner Labor schlecht ab: Bis zu einem Drittel seiner Befunde wurde verworfen. Die Ergebnisse des Bremer Labors von Schmitz-Feuerhake stießen demgegenüber nur in jedem 20. Fall auf Widerspruch. Eine Nachuntersuchung führte schließlich zum förmlichen Ausschluß der Berliner Ergebnisse aus der Kinderstudie. Der Haken: Wegen ihrer jetzt zu dünnen Datenbasis hat die gesamte Untersuchung wahrscheinlich keine Aussagekraft mehr.
Über die handwerklichen Mängel hinaus zieht Professor Roland Scholz die gesamte Kinderstudie jedoch auch grundsätzlich in Zweifel. Man habe mit dem Raum Plön ausgerechnet die Gegend mit dem höchsten Tschernobyl-Fallout in Norddeutschland als angeblich unbelastetes Vergleichsgebiet ausgewählt. Und die Hälfte der in der Elbmarsch untersuchten Kinder wohne keineswegs im Nahbereich des AKWs. Außerdem habe man sich mit einer Kinderstudie von vornherein auf höchst unsicheres Terrain, in die Grundlagenforschung, begeben. Denn niemand wisse, welche Rate von dizentrischen Chromosomen bei Kindern noch als normal gelten könne. Abgesicherte Kontrollwerte gebe es nur für erwachsene Männer aus zahlreichen Untersuchungen von AKW-Arbeitern.
Das Bremer Labor von Inge Schmitz-Feuerhake hat unabhängig von amtlichen Untersuchungen in der Elbmarsch bisher 19 AnwohnerInnen des AKWs auf dizentrische Chromosomen untersucht. Bei Kindern sei die „Dic- Rate“ um den Faktor zwei, bei Erwachsenen mindestens um den Faktor fünf erhöht, lautet das Ergebnis „dieses zuverlässigsten Labors“, wie Scholz es nennt. Für Scholz ist dieser Befund nur ein das AKW belastendes Indiz unter zahlreichen anderen. Ausgangspunkt der Indizienkette ist die Häufung der Leukämieerkrankungen im Nahbereich des AKWs. Die betroffenen Familien seien alle Selbstversorger, würden Gemüse und Obst aus dem eigenen Garten essen. Sie wohnten alle dort, wo bei windschwachen Schönwetterlagen der Hauptniederschlagspunkt der radioaktiven Emissionen liege. Bei der Untersuchung von Bäumen in diesem Gebiet habe man bereits zweimal einen erhöhten Eintrag von Radioaktivität festgestellt. Auch wenn diese Indizien erdrückend erscheinen, eine eindeutige Verknüpfung zwischen Atomkraftwerk und Blutkrebs haben die wissenschaftlichen Untersuchungen bislang nicht ergeben. Das von Sozialminister Hiller ersehnte Ergebnis wird damit wohl ausbleiben.
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