: Heute vor 99 Jahren führten die Gebrüder Skladanowsky in Berlin ihren ersten Film vor, kurz vor den Brüdern Lumière in Paris. Unser Artikel, mit dem wir das Jahr der Jahrhundertfeier des Kinos eröffnen, zeigt allerdings, daß kein Land oder Erfinder das „Patent“ auf dieses Medium beanspruchen kann. Von Norbert M. Schmitz
Der Kinematograph war überfällig geworden
Ein großer weißer Vorhang wurde aufgestellt, vor dem bekannte Varieté-Kräfte ihre charakteristischen Künste ausführten und vor der Bioscop-Kamera für die Ewigkeit auf den Film gebannt wurden. Die erste Szene war ,Italienischer Bauerntanz der Kinder Ploetz-Larella‘, die später als mondänes Tanzpaar die Varietés der Welt bereisten. Die Jongleurszene wurde von dem bekannten Jongleur Paul Petras dargestellt. Brother Miltons produzierten sich komisch am Reck. Im Garten des Friedrich Wilhelmstädtischen Theaters, Chausseesstraße 25/26, dem späteren Filmtheater Metro-Palast, vollführten die drei Tscherpanoffs ihre Original Russischen Tänze Kamerinskaja vor der Bioscop-Kamera. Die Gymnastikerfamilie Grunato und die bekannten Ringer Grainer und Sandow wurden im Garten des vormaligen Stadttheaters Moabit, dem heutigen Filmpalast Hansa, Alt Moabit 47/48, aufgenommen. ,Mister Dalaware mit seinem boxenden Känguruh‘ wurde vor dem Zirkus Busch gedreht.“*
So beschrieb Erich Skladanowsky die Aufnahmen zu den ersten deutschen Filmen, die bald darauf, am 1.11. 1895, im Berliner Wintergarten einer zahlenden Öffentlichkeit eins zu eins als Programmnummern vorgeführt wurden. Sein Bruder Max Skladanowsky (1863 bis 1939), der Erfinder von Kamera und Projektor, war ein typisches Kind des wilhelminischen Deutschland: ein universaler Dilettant, trotz Lehre in einer Theaterscheinwerfer- und Apparatefabrik, der sich, zwischen Technik und Schaugewerbe wechselnd, seit 1881 mit Nebelbildvorführungen und der Konstruktion eines mechanischen Theaters beschäftigte.
Mit einer selbstgebauten Kamera widmete er sich seit 1892 der Reihenphotographie, nicht aus dem wissenschaftlichen Interesse des Chronophotographen Jules Etienne Marey, sondern um Vorlagen für die damals populären Abblätterbüchlein zu erhalten. Zu fragwürdigem Ruhm gekommen, verbrachte er die letzten Lebensjahre mit Ehrengastspielen in deutschen Städten, bei denen die deutsche Erfindung des Films gefeiert wurde. Seine Apparatur ging als Bioskop in die Geschichte ein – ein Begriff, der zeittypisch als bildungsheischende Konstruktion die griechischen Begriffe „bios“ (Leben) und „skopeo“ (sehen) vereinigte.
Der Streit um das Primat an der Erfindung des Films zwischen den Brüdern Lumière, Edison, Le Prince, Skladanowsky und einer Legion von Vorreitern und Wegbereitern in allen Ländern der „zivilisierten“ Welt des ausgehenden Jahrhunderts hat mittlerweile einen langen Bart und im Falle der Deutschen auch manches Unrühmliche hinter sich – erinnert sei an den Nationalsozialisten Carl Niessen, der in seiner Schrift „Der Film – eine unabhängige deutsche Erfindung“ von 1934 geradezu gewaltsam die historische Vorrangstellung Deutschlands einklagte. Die in diesem Geiste 1935 am Wintergarten angebrachte einschlägige Bronzeplatte verschwand im Bombenhagel des Weltkrieges und mit dem Denkmal auch der Anspruch. Heute wird kein seriöser Filmwissenschaftler mehr die Frage ernsthaft zugunsten des ehemaligen Unterhaltungskünstlers entscheiden und überhaupt irgend ein solches Primat feststellen wollen.
Doch ist es nicht uninteressant, das Phänomen der fast gleichzeitigen Entwicklung kinematographischer Techniken an verschiedensten Schauplätzen diesseits und jenseits des Atlantik bar jeder längst überfällig gewordenen chauvinistischen Besitzansprüche ins Blickfeld zu nehmen. Auf verblüffende Art und Weise wiederholen sich darin die Ereignisse bei der Entwicklung der Photographie mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor.
Denn ganz offensichtlich ist die Frage weniger die, wer denn nun der erste gewesen sei, sondern eher die, warum denn allesamt erst so spät mit jener beeindruckenden Technik an die Öffentlichkeit treten konnten, die doch nur, wie der rasche Erfolg beweist, tiefe und schon lange schwelende Sehnsüchte des 19. Jahrhunderts auf vollkommenste Art und Weise erfüllte.
Noch mehr: Der Kinematograph war so überfällig geworden, daß es eher umgekehrt verwundern müßte, wenn nur ein einzelner jene vielen, teilweise schon seit Jahrhunderten bekannten Komponenten zusammengeführt hätte. Es gab nicht nur viele Erfinder der Kinematographie, sondern es mußte sie geradezu geben.
Es ging darum, die Realitätsmächtigkeit der Photographie mit den Kenntnissen über die Verfahren der Bewegungsillusion zu verbinden. Voraussetzung dafür war George Eastmans genialer Gedanke, das Zelluloid, für das Hannibal Goodwin 1887 das Patent erhalten hatte, zu einem industriell normierten Filmstreifen zu verarbeiten – ein Material, das wesentlich praktischer war als die umständlichen photographischen Platten.
Kein Ereignis in jener langen Prähistorie des Films war so durchschlagend wie dieses – der so kurze Zeitraum zwischen diesem Patent und seiner ersten filmischen Nutzung durch Edison und Dickson und die Parallelität, mit der ein amerikanischer Erfindungsmanager, zwei französische Industriellensöhne aus der Photobranche und selbst der kleine deutsche Varietékünstler sich dasselbe mittlerweile international marktgängige Produkt zunutze machten, sind sprechend genug.
Schon C.W. Ceram hat in seiner nach wie vor amüsanten wie informativen „Archäologie des Kinos“ ausgeführt, wie sehr die Erfindung des Films in jenen Jahren in der Luft lag. Avancierte Autoren schildern sie zu Recht als die Conclusio zahlreicher Tendenzen von Kunst und Kultur des industriellen 19. Jahrhunderts. Angesichts des Berliner Jubiläums bleibt die Frage dennoch interessant, weshalb es der Gründer einer Fabrik der Erfindungen, Edison, und die experimentierfreudigen Söhne des optischen Unternehmens aus Lyon, die Brüder Lumière, waren, deren Apparatur sich durchsetzte – und nicht der Einzelgänger Skladanowsky.
Schon lange war bekannt, daß zur Erzeugung einer eigentlichen Bewegungsillusion gerade die Projektion von Standbildern in rascher Abfolge nötig war, das heißt, der Transport des Bilderstreifens durfte nur ruckweise mit kleinen Pausen vonstatten gehen. Die Zeit dazwischen, das heißt jene Bruchteile einer Sekunde, während derer das einzelne Fotokader – das Bewegungssegment – durch das nächste ausgetauscht wurde, mußte naturgemäß verborgen bleiben.
Keinesfalls durften die Bilder verwischen. Für den Betrachter wurde jedes Einzelbild nur den Bruchteil eines Augenblicks durch den Lichtstrahl sichtbar, während die nötige Zwischenphase des Bildtransports durch Abdunkeln überbrückt wurde. Die Brüder Lumière hatten für dieses grundlegende Problem mit wahrhaft cartesianischer Klarheit und Präzision gleich eine elegante Lösung, die, von einigen kleineren Verbesserungen abgesehen, bis zur Einführung elektronischer Techniken über Jahrzehnte für den Aufbau aller Kameras gültig blieb: Sie bauten einen Greifer in ihren Kinematographen. Auf diese Weise wurde der Film jeweils nur ein Drittel der Zeit transportiert. An einer Scheibe war eine Art zweizackige Gabel befestigt. Mit einer Kurbel konnte diese gedreht werden. Ihre Enden paßten genau in entsprechende Löcher am Rande des Filmstreifens, die bis heute noch gültige Perforation. Mit jeder Umdrehung transportierte er den Film um ein Bild weiter, mehrere Male pro Sekunde.
So konnte das einzelne Bild einen Augenblick lang vor der Projektionslinse verharren. In dem anschließenden Zeitraum des Transports zum nächsten Bild wurde die Linse durch eine Blende verschlossen. Diese war wiederum mit dem Antrieb verbunden. Während der dunklen Phase blieb das Bild qua Nachbildeeffekt im Gehirn des Zuschauers präsent, um erst durch das nächste abgelöst zu werden, zwei Stillstände, aus deren leichter Differenz der Betrachter wie beim natürlichen Sehen das Bewußtsein einer Bewegung erzeugt.
Skladanowsky wählte zur Lösung der gleichen Probleme hingegen ein Verfahren mit zwei gekoppelten Projektoren. Dafür zerschnitt er zunächst den aufgenommenen Film und fügte die Einzelbilder abwechselnd zu zwei Streifen wieder zusammen. Diese wurden nun durch zwei Linsen abwechselnd auf dieselbe Stelle projiziert. So sah der Betrachter je nur ein einzelnes Bild, während das nächste auf dem zweiten Streifen, von einer rotierenden Blende verdeckt, bereits in Anschlag gebracht werden konnte. Eine umständliche Konstruktion, die schon nach einem Jahr und ein paar Vorführungen im Ausland Museumsreife erlangte.
Angesichts solcher Qualitätsunterschiede scheint das Argument, der Berliner hätte eben einen Monat vor den Franzosen eine öffentliche Präsentation gegen Eintritt veranstaltet, reichlich peripher. Entscheidend sind die engen Grenzen des Patents Nr. 88 599 mit seinem eigens angefertigten Schneckenradgetriebe. Vor allem beschränkte die komplizierte Herstellung die Dauer der einzelnen Szenen auf wenige Sekunden: Es war eben noch ganz auf den ursprünglichen Schauwert des neuen Mediums hin kalkuliert: die Präsentation lebender Bilder. Trotz aller szenischen Momente waren die knappen Streifen bewegte Photographien. Gerade darin erwies sich Skladanowskys Konzept noch dem auf rasch wechselnde sensationelle Nummern angewiesenen Varietécharakter verpflichtet, während sich die Brüder Lumière eher für den technischen Effekt als solchen interessierten. Mit der zunehmenden Tendenz zur präzisen Systematisierung und experimenteller Verwissenschaftlichung, wie sie den Betrieb des Geschäftsmannes Edison und die Labors der Lumières kennzeichneten, mußten solche spätromantischen Pioniere das Feld räumen.
Und doch gehört es zum Paradox der Entwicklung des jungen Mediums, daß gerade dieses avancierteste Bildgebungsverfahren der kapitalistischen Epoche einen Moment lang die „wissenschaftliche“ Tendenz außer Kraft setzte und in den anarchischen Gründerjahren des Kinos das soeben erst ausgebotete Kleingewerbe der Unterhaltungskunst noch einmal zu Wort kommen ließ. Während nämlich die Brüder Lumière mit der Perfektionierung der technischen Apparatur schon ihren Ehrgeiz befriedigt sahen und eine ganze Weile noch vom weltweiten Verkauf der Lizenzen profitierten, wandte sich das wissenschaftliche Interesse bereits anderen Problemfeldern zu, wie etwa der Entwicklung der Farbphotographie. Doch schon bald, nachdem ihre Premiere auf dem Boulevard des Capucines Furore gemacht hatte, trat ein anderer Jahrmarktskünstler auf den Plan: Georges Méliès, um mit dem Erbe seiner Bühnenerfahrungen am ThéÛtre Houdin aus der bewegten Photographie erst den eigentlichen Film zu schaffen.
Ähnlich waren es in Amerika und England solche Selfmademen aus dem Unterhaltungsgewerbe, die – unbelastet von den kulturellen Werten der bürgerlichen Tradition – erst so etwas wie eine Filmsprache entstehen ließen. Noch einmal, vielleicht ein letztes Mal, konnten also solche autonomen „Künstlerindividualitäten“ à la Skladanowsky ein ganzes Medium prägen. Den Berlinern mag das ein Trost sein, die cinephilen Verehrer des großen Méliès verstanden sich von Anfang an als Weltbürger mit Ambitionen zur Eroberung des Mondes.
Doch langfristig läßt sich die Logik der Industrie eben nicht außer Kraft setzen. Die Entwicklung der großen Filmgesellschaften und Studios machte schnell wieder Schluß mit diesen fiebrigen Gründerjahren, und der alte Méliès mußte, weil er bei aller Geschäftstüchtigkeit eben doch das Prinzip der industriellen Massenproduktion von Unterhaltungsartikeln nicht recht durchschaute, als vergessener alter Mann beim Verkauf von Kinderspielzeug auf dem Gare Montparnasse auch persönlich den Preis bezahlen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen