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Einmal einen Mörder sehen!

■ Tausend Polizisten durchkämmen einen Wald bei Driedorf auf der Suche nach dem zweiten Geiselnehmer

„Hier würde ich Sie noch nicht einmal durchlassen, wenn Sie der Bundeskanzler wären.“ Der Polizeibeamte hält seine Maschinenpistole im Anschlag, um die Zufahrt zum Freizeit- und Erholungsgelände bei Driedorf in der Nähe von Herborn abzuriegeln. Selbst JournalistInnen dürfen nicht durch. Es ist halb drei Uhr nachmittags. Tausende von Schaulustigen haben ihre Autos auf den Wiesen und Feldern rund um das von knapp 1.000 Polizisten aus fünf Bundesländern umstellte Areal geparkt. Vor den Absperrungen drängen sich, zum Ärger der BeamtInnen, die mutigsten Gaffer. Denn zu diesem Zeitpunkt ist einer der beiden aus dem Hamburger Gefängnis „Santa Fu“ ausgebrochenen Geiselnehmer schon wieder flüchtig. Seit den frühen Morgenstunden hatte er sich mit seinem Kompagnon in der weitläufigen Anlage im Westerwald mit ihren rund dreißig Ferienhäusern versteckt gehalten. Der wegen Raubmord verurteilte Gerhard Polak ging den Beamten einer Sondereinheit der Polizei aus Wiesbaden um 14 Uhr ins Netz. Mit „schwerem Gerät“, so der Polizeijargon, hätten sich die Beamten dem Ferienhaus genähert, in dem sie Polak und seinen Komplizen Raymond Albert vermuteten. Kurz darauf hätten die beiden Gangster „Fersengeld gegeben“ – Polak ohne Erfolg. Wenig später konnten ihn die Polizisten im Unterholz des nahen Waldes aufspüren und festnehmen.

Sein Kollege war flinker. Zwei Stunden später haben die Hundertschaften den verurteilten Mörder und Ex-NVA-Einzelkämpfer Raymond Albert noch immer nicht aufgestöbert. Beamtenscharen durchkämmen die Wälder. Hubschrauber kreisen pausenlos über dem bewaldeten Gelände und den Dörfern der Region. Albert habe „keine Chance, aus dem Ring aus Polizeisperren“ herauszukommen, glaubt ein Einsatzleiter in Driedorf. Doch falls es der von der Polizei als völlig skrupellos eingeschätzte Albert schaffen sollte, sich bis zum Einbruch der Dunkelheit vor der Polizei zu verstecken, könnte das seit Montag morgen andauernde Flucht- und Geiseldrama eine für die Polizei blamable Fortsetzung finden. So jedenfalls unken die meisten der rund 200 JournalistInnen, die sich an der Zufahrt zum Feriengelände verschanzt haben. Mit gecharterten Hubschraubern gehen Kamerateams privater Sender auf Gangsterhatz. Und KollegInnen der einschlägigen Boulevardblätter befragen die Driedorfer Bäuerinnen und Bauern schon einmal nach ihren „Todesängsten“ – falls Albert nicht doch noch vor Redaktionsschluß geschnappt werden sollte. Bis zur taz- Deadline jedenfalls bleibt Albert verschwunden. – Gerade der Umstand, daß Albert NVA-Einzelkämpfer ist, regt die Spekulationsküche an. Der könne doch tagelang in den Wäldern im Westerwald überleben, meint ein Kollege, der bei der Bundeswehr eine entsprechende Ausbildung erhalten hatte. Und eine weitere Fluchtmöglichkeit eröffne sich Albert zusätzlich: die Autos der Gaffer auf den Hügeln rund um Driedorf.

Klaus-Peter Klingelschmitt

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