: Der Aufstand in Suburbia
In Kalifornien sind Immigration und Kriminalität die Hauptthemen des Wahlkampfs – und der Katalysator für die Wut auf den Staat ■ Aus San Diego Andrea Böhm
Es wird nicht mehr Nacht im Tijuana-Tal. Die Sonne hängt halb über dem Pazifik und wirft noch für ein paar Minuten ein warmes Licht auf die karstige Hügellandschaft mit ihren Cañons und dem endlosen Stahlzaun, der an manchen Stellen wie eine Rasierklinge emporragt. Hubschrauber schweben dicht über dem Boden und lassen Suchscheinwerfer kreisen. Die Beamten der „US-Border Patrol“ packen die Kaffeebecher weg und die Ferngläser aus. Ein paar hundert Meter landeinwärts, kurz vor dem Grenzübergang San Ysidro, ist bereits das Licht eingeschaltet. Sobald die Sonne ganz untergegangen ist, werden auch hier am Strand die Scheinwerfer auf den riesigen Stahlmasten angehen.
Entlang des Zaunes, in unwegsamem Gelände und in sicherer Entfernung von den Jeeps der „Border Patrol“, hocken die ersten Migranten. Nach Einbruch der Dunkelheit werden sie versuchen, im Schutz der Cañons dem Flutlicht und den Grenzbeamten zu entgehen, bis zum San Diego Freeway zu gelangen, die achtspurige Autobahn zu überqueren und sich nach Chula Vista oder San Diego durchzuschlagen. Am nächsten Morgen werden sie mit anderen Erntearbeitern an den einschlägigen Straßenecken stehen, um sich für ein paar Dollar am Tag auf einer der riesigen Farmen zu verdingen. Erwischt sie die „Border Patrol“, endet die Reise in einer der überfüllten Abschiebehaftanstalten von San Ysidro, Chula Vista oder Imperial Beach.
Angesichts der Aufrüstung der Grenzschützer sind die Chancen der Migranten, sich irgendwie durchzuschlagen, gesunken. Trotzdem, so behauptet der Grenzschutz, schaffen immer noch rund 1.000 illegale Migranten pro Tag den Weg in den gelobten Norden. Bürgerrechtsgruppen wie das „American Friends Service Committee“ (AFCS) schätzen die Zahl auf 400 bis 500 pro Tag, von denen viele nach einer Erntesaison wieder in ihre mexikanischen Heimatstädte zurückkehren.
Fährt man von der Grenze auf dem „San Diego Freeway“ rund 150 Kilometer nördlich nach Tustin, ist von dieser Jagdatmosphäre nichts mehr zu spüren. Tustin ist eine der unzähligen Suburbs, die südlich von Los Angeles in Orange County ineinander übergehen. Der Tourismusprospekt schildert Orange County als die „kalifornischste aller Gemeinden in Kalifornien – dort, wo es fast so aussieht wie im Film“. Tustin besteht aus neuen Shopping-Malls in trendgemäßen Art- deco-Farben, Palmen, Eigenheimen mit Doppelgaragen und gepflegten Gärten, riesigen Parkplätzen und begrünten Mittelstreifen, die an kurzgeschorene Rekrutenköpfe erinnern. Man sieht viele Weiße beim Einkaufen, viele Latinos beim Putzen, und kaum Schwarze.
Hier jongliert in einem kleinen Bürogebäude Ron Prince mit mehreren Telefonen, begrüßt Fernsehteams und bedient Interessenten mit Aufklebern. Prince, ein schmächtiger Mann mit betont fürsorglichem Auftreten, ist Vorsitzender der „Save Our State“-Kampagne, kurz SOS. Als solcher ist er, der sich gern kokett als „unscheinbaren Buchhalter“ beschreibt, im Begriff, kalifornische Geschichte zu schreiben. Denn SOS, eine Gründung von zehn kalifornischen Bürgern, hat die sogenannte „Proposition 187“ verfaßt, einen Volksentscheid, über den die Wähler in Kalifornien am 8. November ebenso abstimmen werden wie über die Kandidaten für das Gouverneursamt und den Senatssitz. „Proposition 187“ würde den schätzungsweise zwei Millionen illegalen Immigranten in Kalifornien in Zukunft das versagen, was sie bisher in Anspruch nehmen können: Schulbildung für ihre Kinder, medizinische Versorgung sowie alle anderen sozialen Leistungen. Schuldirektoren, Mitarbeiter von Krankenhäusern, aber auch Verkehrsämtern und Steuerbehörden wären dann verpflichtet, illegale Immigranten und ihre Kinder der Einwanderungsbehörde zu melden, die ein Deportationsverfahren einleiten würde.
„Wir, die kleinen Steuerzahler“, sagt Prince, „können nicht länger zulassen, daß unsere Gelder für die soziale Versorgung von illegalen Immigranten verschwendet werden. Das ruiniert unser Gesundheitswesen und drückt das Schulniveau in den Keller.“ Weil die Bundesregierung nicht hart genug gegen illegale Migranten vorgehe, müsse man ihnen eben den Anreiz, „unser staatliches Versorgungssystem“, nehmen, überhaupt in die USA zu kommen.
SOS fand nicht nur innerhalb der vorgeschriebenen Frist die nötigen 384.000 Unterschriften, um den Volksentscheid zur Abstimmung zu bringen, sondern auch zwei prominente Unterstützer: Gouverneur Pete Wilson und den republikanischen Kandidaten für den Senat, Michael Huffington. Gepaart mit dem Thema Kriminalität und rabiaten Law-and-order- Slogans benutzte Wilson die „Proposition 187“, um einen scheinbar uneinholbaren Rückstand gegen seine demokratische Herausforderin Kathleen Brown, Schwester des ehemaligen Gouverneurs und Präsidentschaftskandidaten Jerry Brown, in einen satten Vorsprung zu verwandeln. Browns Opposition gegen die „Proposition 187“ und gegen die Todesstrafe ließen sie plötzlich in jenem Licht erscheinen, das die Demokraten in diesem Wahlkampf am meisten fürchten: das einer Liberalen, die Steuergelder verschwendet und Kriminelle hätschelt. Über 2,3 Milliarden Dollar müsse Kalifornien jedes Jahr für die „illegal aliens“ berappen, klagt Pete Wilson im Wahlkampf und präsentiert damit die scheinbar Schuldigen für die anhaltende fiskalische Krise im Bundesstaat.
Daß illegale Immigranten überhaupt Anrecht auf soziale Leistungen des Staates haben, mag für deutsche Ohren zunächst erstaunlich bis unglaublich klingen. Doch die Sündenböcke von heute galten bis vor kurzem als zwar ungeliebte, aber unentbehrliche, weil billige Arbeitskräfte. Der gesetzliche Mindestlohn liegt bei 4,35 Dollar pro Stunde. Für zehn Dollar am Tag ist ein Erntepflücker zu haben. Kosten für Sozial- oder gar Krankenversicherung fallen nicht an.
Von den Illegalen profitieren nicht nur der Agrarsektor und das Hotel-und Gaststättengewerbe, sondern auch Hunderttausende von meist weißen Angehörigen der Mittelschicht, in deren Häusern mexikanische „nannies“ die Kinder hüten, guatemaltekische Gärtner den Rasen mähen oder peruanische Studenten mit abgelaufenem Visum Einkäufe erledigen. Die Niedrigstlöhne für Illegale erlauben die Existenz einer Dienstbotenkaste, die sich Weiße in anderen Teilen der USA, wo sehr viel weniger Immigranten landen, nicht leisten können. Für unzählige alleinstehende Frauen mit Kindern ist die „nanny“ ohne Papiere wiederum die Voraussetzung, um selbst arbeiten zu können.
Mitte der achtziger Jahre hatte Pete Wilson als kalifornischer Senator im US-Kongreß noch maßgeblich dazu beigetragen, daß Erntearbeitern auch weiterhin Schlupflöcher in den Einwanderungsgesetzen gelassen wurden. Doch daran will der kantige Ex- Marine heute nicht erinnert werden, wenn er auf seinen Wahlkampftouren selbstbewußt und siegessicher seine Attacken gegen das allseits verhaßte Feindbild führt: die Bundesregierung und den Kongreß in Washington. Bereits im letzten Jahr hatte sich der 61jährige Republikaner, dessen Amtszeit durch Rezession, Finanzkrisen sowie soziale und natürliche Erdbeben geprägt war, mit einem höchst populären Schachzug aus einem Popularitätstief emporgehangelt: Er verklagte die Clinton- Administration auf Rückzahlung der besagten 2,3 Milliarden Dollar. Die Gouverneure anderer Einwanderungsstaaten – Florida, Texas und Arizona – sind seinem Beispiel gefolgt. Diese Forderungen hält das „Urban Institute“, eine Forschungsgruppe in Washington, für maßlos übertrieben. Wilson- Kritiker verweisen zudem auf die Studie eines anderen Forschungsinstituts, des „U.S. Center on Budget and Policy Research“. Demnach sind nicht Immigranten für die wirtschaftliche Krise verantwortlich, sondern ein immer geringeres Steueraufkommen durch Abwanderung der mittleren und oberen Einkommensschichten in andere Bundesstaaten sowie ein drastischer Rückgang staatlicher Investitionen.
Solche Details gehen im Kampfgetümmel eines Wahlkampfes schnell unter, zumal es um viel mehr geht als einen fiskalischen Lastenausgleich. Im „Golden State“ prallen zwei Welten aufeinander: Die des Tourismusprospekts von Orange County und die der demographischen Realität. Jeder dritte Einwohner Kaliforniens, legal oder illegal, ist mittlerweile hispanischer Herkunft. Im Jahr 2000 werden die „anglos“ erstmals weniger als die Hälfte der Bevölkerung stellen. Diese Perspektive sorgt für Belagerungsstimmung in den Suburbs mit den umzäunten Siedlungen, in denen Privatpolizei allen Unbefugten den Zutritt verwehrt, in denen Graffiti ebenso undenkbar sind wie laute Musik oder rostige Autos, und Armut und Jugendgangs nur im Welten entfernten Los Angeles oder San Diego existieren. Jetzt rücken all diese Schreckgespenste näher und nähren Ängste und Verschwörungstheorien. Nicht wenige glauben wie Ron Prince an eine Verschwörung „revolutionärer mexikanischer Gruppen“, die mit Hilfe der illegalen Immigration den Süden Kaliforniens „zurückerobern“ und die „anglos“ vertreiben wollen.
Ihnen und der angeblichen Finanzhilfe der mexikanischen Regierung für die Gegner der „Proposition 187“ schreibt er auch zu, daß die Unterstützung für sein Volksbegehren von anfangs 62 Prozent auf mittlerweile 52 Prozent geschrumpft ist. Die Wahrheit dürfte etwas einfacher und für Prince sehr viel schmerzvoller sein. „Proposition 187“ hat die bislang politisch eher passive hispanische Bevölkerung aufgeschreckt. 70.000 demonstrierten am 16. Oktober in Los Angeles; in San Diego marschierten am letzten Wochenende High-School-Kids durch die Straßen, stoppten Autos und hielten den Fahrern ihre Schilder vor die Nase: „Vote No on 187“ oder „Wilson is a racist“.
Inzwischen haben sich nicht nur die demokratischen Kandidatinnen, sondern auch die kalifornische Lehrergewerkschaft, die katholischen Bischöfe, der „American Jewish Congress“, der Stadtrat von Los Angeles und mehrere einflußreiche Zeitungen gegen die „Proposition 187“ ausgesprochen. Sogar aus seiner eigenen Partei bekam Wilson Kritik zu hören. An seiner Wiederwahl wird dies vermutlich nicht viel ändern – und damit, so spekuliert man, hat der Gouverneur beste Chancen, 1996 zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner gekürt zu werden.
Für seinen Parteifreund Huffington ist die „Proposition 187“ zum Stolperstein geworden. Der Sohn eines Ölmilliardärs, der politisch so konturlos ist, daß sich sogar prominente Republikaner für seine Kontrahentin Dianne Feinstein aussprechen, hat in diesem Wahlkampf vor allem durch sein Bankkonto von 70 Millionen Dollar Eindruck gemacht – und durch die Äußerung: „Ich will einen Staat, der überhaupt nichts macht. Alles, was privat ist, ist gut.“ Nach mehreren Flops unterstützte er schließlich vehement die „Proposition 187“. Vor wenigen Tagen mußte er vor laufenden Kameras zugeben, daß er und seine Frau selbst eine illegale Immigrantin über mehrere Jahre als Kindermädchen beschäftigt hatten. Die Kinder, so erklärte Huffington etwas kläglich, hätten Marisela sehr gemocht.
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