: Vom Friedhof zur Weidekoppel
■ Staatsgefährdend: Friedhofsforschung in der DDR. Ein profundes Nachschlagewerk zur Geschichte jüdischer Gräber
Auch die Beschäftigung mit Toten und Friedhöfen konnte in der DDR schon staatsgefährdend sein. Das haben der Künstler Eckehardt Ruthenberg und der Filmer Kai Uwe Schulenburg am eigenen Leib erfahren müssen. Sie bereisten ab 1984 die gesamte Republik auf der Suche nach noch vorhandenen oder bereits verschwundenen jüdischen Friedhöfen. Die Sache endete mit zwei Rausschmissen. Im Juni 1988 wurde Schulenburg ausgebürgert, im Dezember desselben Jahres auch Ruthenberg.
Die beiden hatten besonders nach dem Schicksal zahlreicher Friedhöfe gefahndet, die zwar den Nazi-Terror überdauert hatten, in den DDR-Folgejahren jedoch entweder vernachlässigt, eingeebnet oder anderweitig genutzt wurden. Nachdem Protestbriefe an offizielle Institutionen oder Zeitungen ohne Reaktionen blieben, drehten sie zusammen mit einem Berliner ARD-Korrespondenten einen kurzen Fernsehbeitrag – mit dem Erfolg, daß zumindest die gefilmten Friedhöfe fortan geschont und zum Teil auch wiederhergerichtet wurden.
Sonst sah es um die Pflege jüdischer Stätten eher mager aus, genaue Daten zum Bestand gab es keine. Statt der offiziell angegeben 125 hat es auf DDR-Gebiet fast 300 jüdische Friedhöfe gegeben. Etwa 100 der Begräbnisstätten sind im Laufe der Geschichte zumindest teilweise eingeebnet worden. Von den 30 völlig verschwundenen gehen 15 auf das Konto der Zeit nach 1945.
Verantwortlich dafür waren die Räte der Städte und Gemeinden und das Staatssekretariat für Kirchenfragen beim Ministerrat und wohl auch der Verbandspräsident der Jüdischen Gemeinden in der DDR. Heute dienen die heiligen Stätten als Weidekoppeln, Hühnerfarmen oder Abfallplätze. Im brandenburgischen Angermünde ist sogar die frühere Leichenhalle zur Garage umfunktioniert worden.
Die 1989 von Thilo Krenge weitergeführten und vom Berliner Judaistik-Professor Michael Brocke sachkundig ergänzten Recherchen liegen jetzt als Buch vor. In dem nach Städtenamen geordneten Dokumentationsteil sind nicht nur die großen Berliner Friedhöfe ausführlich beschrieben – längere Kapitel gibt's auch über die Friedhöfe in Leipzig, Halle und Dresden. Die Friedhöfe und Grabsteine werden beschrieben, die Lebensgeschichten der dort Beerdigten skizziert und zahlreiche hebräische Grabinschriften übersetzt.
Nebenbei wird auch in die Geschichte der Inschriften eingeführt: Auf früheren Grabsteinen stand die hebräische Schrift auf der Vorderseite, später brachte man sie zugunsten der deutschen auf der Rückseite an, bis schließlich nur der deutsche Text übrigblieb. Zum Teil haben die Autoren Skizzen der Friedhöfe mit genauen Lagebeschreibungen der Grabsteine beigefügt.
Aus den über 1.000 Zuschriften, die die Autoren auf ihre Briefe an evangelische und katholische Kirchengemeinden und Artikel in kirchlichen Zeitschriften erhielten, aus Privatgesprächen und der Lektüre etlicher kleiner und größerer Veröffentlichungen ist ein außergewöhnliches Nachschlagewerk geworden. Die so gesammelten Aussagen zu den Friedhöfen und ihrer Geschichte sind selbst dann ohne Kommentar wiedergegeben, wenn sie sich widersprechen. So verneinten manche Befragte die frühere Existenz eines Friedhofs in ihrer Stadt, den andere wiederum durch genaue Angaben belegen konnten.
Das Buch ist auch ein detailreicher Protestschrei gegen den erbärmlichen Zustand mancher „Häuser der Ewigkeit“ in Ostdeutschland. Mögen die Stadtverwaltungen und andere ihn hören. Noch ist es nicht zu spät, die zerbrochenen, verstreuten und vergrabenen Steine der entweihten jüdischen Begräbnisstätten zu retten und wiederherzurichten. Jürgen Karwelat
Michael Brocke/Eckehart Ruthenberg/Kai Uwe Schulenburg: „Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin)“. Veröffentlichungen des Instituts Kirche und Judentum, 720 Seiten, 39,80 DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen