: Deplazierte Literaturen
Für einen internationalen Widerstand der Schriftsteller jenseits des alten Weltbürgertums ■ Von Jacques Derrida
Ihren Ort zu wählen, sich frei zu bewegen: das ist ein Recht, das unsere Welt den Schriftstellern mehr und mehr verweigert. Noch einmal wollen wir, gegen das Verbot, den Ort der Literatur sagen, ihren Ort in eben diesem Moment. Daß die Literaturen stattfinden, daß sie einen Ort haben, diese Versicherung soll das erste Wort unseres Treffens in Straßburg sein.
Ein neuer literarischer Raum hat sich geöffnet, in dem die Einsätze heute weniger denn je auf Philosophie oder Wissenschaft, Poetik oder Literaturtheorie in einer abstrakten Form beschränkt sind, sei sie klassisch oder weniger klassisch. Die Verschiebungen, von denen wir sprechen müssen, werden – wir haben zu viele Beispiele dafür –, zu Fragen von Leben oder Tod. Täglich geht es um den Körper der Sprachen, das Korpus der Werke und den Leib der Schriftsteller.
Was bedeutet heute für so viele Autoren, bekannte ebenso wie unbekannte, diese Verschiebung, die oft genug darin besteht, keinen Ort mehr zu haben? Sie bedeutet, in den Tod geschickt zu werden oder des Landes verwiesen zu werden, bedroht mit Einsperrung, Folter, Hinrichtung oder Ermordung. Um frei schreiben und sprechen zu können, sind zu viele Männer und Frauen gezwungen, den Ort ihrer Sprache und ihrer Erinnerung zu verlassen.
Sie werden jenseits der Grenze verfrachtet oder werden an Ort und Stelle verhaftet, „zu Hause“ eingemauert, in der Nacht eines Verschlages, von nun an auf eine Zelle oder die eigene überwachte Wohnung beschränkt. Und bei dem Bemühen, ans Tageslicht des öffentlichen Raumes zu gelangen, in den gedämpften Widerstand einer klandestinen oder kryptischen Literatur, geschieht es oft, daß andere Plätze, die rhetorischen Gemeinplätze, zur letzten Zuflucht werden, um die Zensur auszutricksen.
Ist das etwas so unerhört Neues? Wie und in welchem Maße? Was geschieht heute Neues mit der Literatur, genauer gesagt im Verhältnis zu ihrem Ort? Wir gehen von einer Hypothese aus: da geschieht etwas Neues, denn eine gewisse Wiederholung schließt nicht die Erfindung neuer Formen von Gewalt aus, die alle einen Bezug zum Ort haben, zu dem, was da passiert und sich verschiebt, wo eine bestimmte Literatur stattfindet. Um auf das Hereinbrechen dieser Neuigkeit zu reagieren, muß man alle Analogien in Erinnerung behalten und analysieren. Vor jeder „literarischen Bewegung“ wird eine andere Bewegung eine bestimmte Literatur vorangetrieben (aber auch gejagt und verfolgt) haben. Natürlich nicht jede Literatur, nicht diejenige, die der Identität – sei es einer Gruppe, eines Staates, einer Nation, einer Religion, einer Sprache oder jeder anderen institutionellen Macht – dient oder sie reflektiert. Aber man hat immer jene Literatur schlecht toleriert, die, mindestens teilweise, einen solchen Status oder eine solche Mission in Frage stellt, als ob sie nur dort stattfinden wollte, wo ihr ein Platz verweigert wird, jedenfalls ein Rastplatz, Seßhaftigkeit, Geselligkeit, Verwurzeltsein. Daher so viele Phänomene, die gerade für die Literatur der Moderne typisch sind: Literaturen im Exodus, Literaturen im Exil, Literaturen in der Fremde, Literaturen, die fremd in ihrer eigenen Sprache sind, klandestine Literaturen, Literaturen im Widerstand, verbotene Literaturen, Literaturen außerhalb des Gesetzes und ortlose Literaturen.
Verbotene Orte, weit über das akademische Beispiel von „Platon- und-die-Poeten-aus-der-Stadt- verjagt“ hinaus, das ist es, was man den Literaturen zuweisen wollte, indem man sie ohne Ende verschob und verdrängte; als wollte man sie ganz einfach, indem man sie daran hinderte, Platz zu nehmen, daran hindern anzukommen, anders gesagt stattzufinden. Dieses Phänomen ist sicher nicht neu, aber es wartet vielleicht noch darauf, daß man die Geschichte anders schreibt (und das wäre dann eine unserer Aufgaben). Ein niederschmetterndes Archiv bezeugt dies. Zensur, Bann, Exkommunikation, Drohung mit Tod oder Gefängnis, das sind die Gestalten einer Gewalt, die so viele Schriftsteller auf die andere Seite einer Grenze und manchmal ins Exil im eigenen Land getrieben hat. Seitdem sie stattfinden, wenn man so sagen kann, haben die Literaturen es schwer gehabt, an eben jenen Orten akzeptiert zu werden, aus denen sie entsprungen zu sein scheinen – in den Kulturen, Ländern, Nationen, Staaten, von denen sie sprechen, indem sie bereits über ihre Grenzen hinausgehen, von denen sie sprechen, indem sie ihre Sprache schmieden. Was geschieht also mit der Literatur? Bis zu welchem Punkt teilt sie in dieser Hinsicht das Schicksal des freien Worts oder der freien Schrift innerhalb der Ordnung des Denkens, der Philosophie, der Kunst oder der Wissenschaft? In der intellektuellen Ordnung im allgemeinen, die sich den neuen Ort des Wissens und seiner Vermittlung in der modernen Gesellschaft oft als Quelle einer möglichen Macht erwählt – und dementsprechend, wenn es gegen seine Ausbeutung rebelliert, wenn es kritisch bleibt, als bevorzugte Zielscheibe? Diese Erbschaft erlegt uns sicherlich die gleiche Verantwortung, die gleiche Solidarität und die gleichen Akte des Widerstands auf. Und wir werden uns ihr nicht entziehen. Aber müssen wir nicht schärfer die Besonderheit der Einsätze zu denken versuchen, die sich heute eben unter dem Namen „Literatur“ ankündigen? (...)
Man darf nicht vergessen, an die Wiederholung der Geschichte zu erinnern, wenn man heute die neuen Formen der Verfolgung analysieren und bekämpfen will, die von Kontinent zu Kontinent verfeinert werden. Quer durch alle Formen der Autorität bedienen sich die verschiedenen Mächte traditioneller Waffen und Vorwände, aber auch ungekannter Techniken und Prozeduren. Sie passen sich unmittelbar demjenigen an, das den öffentlichen Raum radikal verwandelt – das Verlagswesen, die Medien, die Diplomatie, das internationale Recht, die staatlichen Organisationen und die religiösen Mächte, die Märkte – das heißt so viele physische und symbolische Konflikte: theologisch-politische Kriege, interethnische Kriege, ökonomische Kriege und natürlich, quer durch alle diese Mutationen, die Kriege der Sprachen und die Kriege in der Sprache. Eine inquisitorische Gewalt ohne Vorbild heftet sich an die Fersen derjeni
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gen, die unter den verschiedensten Formen der physischen und symbolischen Unterdrückung widerstehen, die die Dogmatismen anfechten und im Namen eines anderen Denkens, einer anderen Erfahrung des Werks und der Sprache, des Werks der Sprache, protestieren. Worin zeigen diese Verfolgungen Zeichen unserer Zeit? Warum finden wir unter den auserwählten Opfern so viele Schriftsteller? Warum so viele Männer und Frauen, nach deren Verständnis sich das öffentliche Wort in romanhafter Fiktion einschreibt, im Gedicht, in der Erfindung neuer literarischer Formen?
Solche Fragen auszuarbeiten hieße, neue Konzepte, neue Strategien für einen internationalen Widerstand zu entwickeln. Er kann sich heute nicht mehr auf Formen eines Kosmopolitismus beschränken – so ehrwürdig sie auch sein mögen –, die von den traditionellen Begriffen des Autors, des Bürgers (der Schriftsteller als Weltbürger), des Staates und der Nation bestimmt sind, zum Beispiel in einer Gelehrtenrepublik oder in einem Komitee der Wachsamkeit antifaschistischer Schriftsteller. So reich und komplex seine Geschichte auch sein mag, selbst der Wert Toleranz genügt nicht mehr. Und wir appellieren an ein anderen Begriff von Gastfreundschaft.
Die beste Würdigung, die man den großen Zeugen der Vergangenheit erweisen kann, ist, sich nicht damit zufriedenzugeben, sie zu feiern. Es gibt eine andere Dringlichkeit. Wir müssen (aber werden wir es können?) antworten – aber: anders auf andere Bedrohungen antworten und für etwas einstehen, was bereits, in mehr als einer Sprache, als eine andere Geschichte geschrieben wird.
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