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Wofür stirbt der Bürger?

Der neue Sammelband des Historikers Reinhart Koselleck befaßt sich mit Kriegerdenkmälern und dem politischen Totenkult in den modernen Nationalstaaten  ■ Von Siegfried Weichlein

„Der Tod ist ein Teil des Lebens“, sagt die sterbende Mutter zu Forrest Gump im gleichnamigen Film. An wenigen Sachverhalten läßt sich dieser steile Satz so gut überprüfen wie am modernen Totenkult. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Denkmalsriten spiegelten die christliche Imprägnierung der Gesellschaft samt Erlösungshoffnung und Jenseitsgewißheit. Die Wende zur Neuzeit ließ die transzendente Sinndeutung des Todes verblassen. Es schlug die Stunde des politischen Totenkultes. Seine Kennzeichen waren die Indienstnahme für politische Zwecke und eine quantitative Vervielfachung der Geehrten. Die Funktionalisierung des Todesgedenkens ging Hand in Hand mit seiner Demokratisierung.

Der Bielefelder Historiker Reinhart Koselleck, der diese Thesen 1979 erstmals veröffentlichte, legt nun zusammen mit seinem Schüler Michael Jeismann eine umfassend angelegte Sammlung von Studien zum modernen politischen Totenkult vor. HistorikerInnen und KunstgeschichtlerInnen überprüfen in Längs- und Querschnitten von Kriegerdenkmälern mehrerer Länder und Epochen die These von der Funktionalisierung und der Demokratisierung des politischen Totenkultes. Die LeserInnen werden zugleich methodisch trittsicher und strukturell informiert wie auch teilweise durch stupide Faktenanhäufungen und Stilstudien gelangweilt.

Der moderne Totenkult im Namen der Nation begann mit deren Karriere als politischer Leitbegriff. Die levée en masse 1793 und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht markierten nicht nur Zäsuren in der Militarisierung der Nation, sondern auch der Nationalisierung der militärischen Toten. Der einzelne Gefallene wurde denkmalswürdig, egal welcher sozialen Schicht, Konfession oder welchem Stand er angehörte. Dies war denkbar modern. Fortan galt: „Niemand darf umsonst sterben, an jeden muß erinnert werden.“ In der Konsequenz dieser egalitären Entscheidung lag das Denkmal für den „Unbekannten Soldaten“. Seit 1792 gingen Republik und Nation in Frankreich eine enge Verbindung im Denkmalskult ein.

In der Denkmalsdebatte um die „eigentlichen“ Opfer der Revolution von 1848 reklamierten die Konservativen in Deutschland Begriffe wie „Treue“ und „Gehorsam“ für sich und überwanden damit ihr vorheriges Ideologiedefizit mit weitreichenden Folgen. Indem vor allem ihrer Toten erinnert wurde, war es möglich, die liberalen Gegner als untreu und pflichtlos zu diffamieren. Der nationale Denkmalskult nahm somit eine antiliberale Wendung, indem „Nation“ und „Liberalismus“ auseinanderdividiert werden konnten.

Prominentester Sinnstifter des Todes war die „Nation“. Sie leistete, was zuvor Aufgabe der Religion gewesen war: Identitätssicherung über den Tod hinaus. Kriegerdenkmäler können daher verstanden werden als Kultstätten der politischen Religion „Nationalismus“. Ihre hohe Zeit hatte diese Religion ohne Jenseits im langen 19. Jahrhundert bis 1914, der Phase der Entstehung der modernen Nationalstaaten mit ihrem kaum zu stillenden Bedürfnis nach Legitimation und Homogenisierung im Inneren. Ihre Altäre waren – auch – die Denkmäler. Ihre Kundschaft verdankte sich nicht zuletzt dem immer massenhafteren Sterben auf den Schlachtfeldern, die nach immer schärferen Sinnstiftungen im Tode verlangte. Entlang der hiermit einhergehenden Eskalation militärischer Auseinandersetzungen bis hin zur Polarität der Weltmächte USA und Sowjetunion ist der Band aufgebaut.

Auch im deutsch-französischen Vergleich bestätigen sich die Beobachtungen Kosellecks. Das Gefallenengedenken im durch den Kriegsausgang zu Deutschland gekommenen Elsaß-Lothringen mußte nach 1871 naturgemäß zwiespältig ausfallen, waren seine Kriegsopfer doch für Frankreich gefallen. Nach 1871 hatte man die Gefallenen zwar noch gemeinsam beigesetzt. Dennoch konkurrierten der französische Totenkult im politisierenden Untergrund des privaten Totengedenkens mit dem öffentlichen reichsdeutschen. Die Militärs wie auch der Kaiser blieben vorsichtig im spannungsgeladenen Grenzraum verminter Erinnerung. Nach dem erneuten Herrschaftswechsel 1918 wurden die deutschen Denkmäler mit wenigen Ausnahmen erhalten.

Im sowjetischen Gedenken der Abermillionen Gefallenen des „Großen Vaterländischen Krieges“ überwiegt die Monumentalität, hatte das siegreiche Land doch gleichzeitig die meisten Opfer aufzuweisen. Der sowjetische Totenkult fand massiven Eingang in die politische Pädagogik der Partei- und Staatsführung und wurde stark ritualisiert. Zur gleichen Zeit spaltete am anderen Ende der bipolaren Welt die Vietnamerfahrung eine ganze Nation, so daß der überkommene Rückzug auf das abstrakte Deutungsangebot „Nation“ versperrt war. Der Ausweg lautete: ein doppeltes Denkmal. Neben das 1982 eingeweihte zurückhaltende Vietnam-Memorial der Maya Lin im Constitution Garden trat 1984 eine heroische kämpfende Figurengruppe mit Flagge, für die Veteranenverbände eingetreten waren. Das Memorial erinnert auf spiegelnder Oberfläche die Namen der 57.939 Gefallenen ohne Bezug auf das Kriegsgeschehen in Vietnam. Es weigert sich, Sinn- und Identifikationsangebote zu unterbreiten und reduziert seine Formensprache auf die Erinnerung der Toten als Tote. Die Erbauer dieser den Betrachter auf sich zurückverweisenden Gedenkstätte sahen sich jedoch mit einer Trauergemeinde von jährlich 2,5 Millionen Besuchern konfrontiert, die anders reagierten als erwartet. Die Masse gab dem eher kontemplativen Denkmal der Maya Lin den Vorzug, hinterließ aber auch Andenken. Darunter fanden sich – kleine amerikanische Flaggen.

Die Analysen zum differenzierten Gedenken in den Vereinigten Staaten hätten ein deutsches Pendant zum Denkmalsstreit 1993 um die „Neue Wache“ in Berlin verdient gehabt. Der Protagonist dieses Streites, Reinhart Koselleck, hatte damals einer vorschnellen Sinnstiftung der Gefallenen und Ermordeten genauso wie einer wohlfeilen Nivellierung des Opferbegriffes widerstanden. Warum schweigt er dazu in diesem Buch?

Reinhart Koselleck/Michael Jeismann (Hrsg.): „Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne“. Wilhelm Fink Verlag, München 1994, 440 Seiten, 78 DM.

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