piwik no script img

Wo der Fisch ölig schmeckt

Seit der Konzern Komineft in Rußlands Arktis Öl fördert, treiben immer mal wieder Öllachen die Flüsse in Komi hinunter  ■ Aus Ussinsk Klaus-Helge Donath

Strahlend weiße Hügel, Scharen verzuckerter Zedern wie von Landschaftsarchitekten dahingesetzt, ein dünner Schneefilm über dem Eis, unter dem die Kolwa fließt. Es ist abschüssig hier. Keine Menschenseele weit und breit. Nur das scheckige Weiß eines Hundes, der über den Fluß schleicht. Es verrät ihn für den Bruchteil einer Sekunde. Dann ermüdet das Auge vom gleißenden Weiß. Die Sonne wärmt nicht, das Thermometer zeigt knapp unter dreißig Grad Frost. Anna Artejewas Holzkate schmiegt sich schief an die Böschung. Gleich hinter ihrem Haus bemerkten die Dorfbewohner im September als erste, daß etwas nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Meterbreite Ölteppiche trieben den Fluß hinunter. Südwind schwemmte das Zeug ans Ufer.

Der Ölkonzern Komineft aus der Nachbarstadt Ussinsk schickte Aufräumtrupps. Tagelang sollen sie durch Öl gewatet sein. Spuren sieht man nicht mehr. Der Schnee hat sich darüber gelegt. Das schwere Gerät, meint Anna Artejewa, habe noch mehr Schaden angerichtet als das Öl. Erst im Frühjahr wird sich das wahre Ausmaß der Katastrophe zeigen, wenn die Ölablagerungen im Uferbereich auf die Felder geschwemmt werden. Vor ihrem Haus wird Anna Artejewa die Kuh nicht mehr weiden lassen können.

Seit 33 Jahren lebt die 56jährige mit ihrem Mann im Dorf Kolwa. Sie ist Komi, wie die meisten hier, Angehörige der finnougrischen Minderheit, die der Republik den Namen gibt. Früher verdienten die Komi ihr Brot mit Fischfang, Jagen und Beerensammeln. Die Zedernwälder und Sümpfe quellen im Sommer davon über. „Moos- und Preiselbeeren“, schwärmt die früh gealterte Frau, „Sumpfbrombeeren, Heidelbeeren und was immer das Herz begehrt.“ Aber jagen lasse sich nicht mehr. Die Ölsuche, der Lärm und Dreck haben die Tiere vertrieben, weiter in den Norden. Nebenher schustert Anna Artejewa die traditionellen Stiefel der Komi. Aus dem Fell der Rentierbeine, mit einfachen farbigen Bandornamenten am Schaft. Die 56jährige ist eine der wenigen, die diese Fertigkeit noch beherrschen.

Im Dorfladen gibt es die Stiefel zu kaufen, für umgerechnet 120 Mark. Die dicke Sohle, meint sie, hält auch noch bei unter minus 50 Grad warm. „Früher wurde es so kalt“, erinnert sie sich, „heute ist es ja warm, bei 40 stöhnt man schon.“ Sie lehnt dick eingepackt an ihrem Ofen. Gemütlich warm ist es in ihrer Kate nicht gerade.

Bei Anna Artejewa gibt es nicht einmal fließend Wasser. Auf den Eimern in der Küche schwimmen Eisstückchen und Grashalme aus dem Dorfbrunnen. Herd und Ofen heizt sie mit Holz. „Eine Schande, nicht wahr? Unter uns liegen die Reichtümer. Ganz Europa wärmt sich mit unserem Öl und Gas, und wir selbst holzen unseren Wald ab.“ Spontan protestierten die Einwohner Kolwas nach der Ölkatastrophe. Komineft ließ sich auf ihre Forderungen ein und machte zunächst Versprechungen: eine Gasleitung vom Flughafen ins Dorf, einen Kindergarten und unverseuchte Weideplätze.

Totscheslawa Popowa ist die Gemeindevorsteherin Kolwas, energisch und lebendig. Die Katastrophe wird dem Dorf Vorteile bringen; sie spricht es beinah unverblümt aus. Der Direktor von Komineft, Viktor Leonidow, hat sich im September selbst in die Gemeindebaracke bemüht, erzählt Popowa und zeigt auf den Stuhl, wo er gesessen hat. Die Gemeindevorsteherin klingt entschlossen und resolut. Man kann ihr glauben, sie wird rausschlagen, was rauszuholen ist. Sie verlangte auch den Einsatz einer unabhängigen Expertenkommission nach dem Unfall. Komineft ging darauf ein. Offene Kritik übt sie nicht. Unbemerkt spricht sie von „unserem General“, dem Konzernchef Leonidow. Sie scheint es nicht einmal negativ zu meinen. Die Abhängigkeit von Komineft ist zu groß, als daß man die ganze Wahrheit sagen wollte. Sie betont, wie eng verflochten und gut das Verhältnis sei.

Dennoch, die Dörfler haben das Gefühl, die Umweltbelastung werde immer schlimmer. „Der Fisch stinkt“, sagt Anna Artejewa. Schon Anfang der sechziger Jahre, als man mit der Ölförderung begann, trieben Öllachen im Fluß. Über die Jahre nahm der Fischbestand ab. Fangen sie dennoch welchen, essen sie ihn auch. „Er schmeckt nach Öl, aber was soll's, man gewöhnt sich an alles.“

Die Leidensfähigkeit der Nordlichter, der Severjany, scheint grenzenlos. Sie leben unter härtesten klimatischen Bedingungen, das 20. Jahrhundert hat bei ihnen noch nicht Einzug gehalten. Vierzig Kilometer hinter der Stadt Richtung Norden ist eine Brigade an einem Ölsee zugange. Die gut asphaltierte Straße führt schnurgerade gen Polarkreis. Ab und an säumen eingezäunte Ölzisternen den Rand. Die Sonne spielt mit den Rohren, die von Korrosion nicht befallen sind. Immer wieder Zisternen, Zisternen. Dort ein Feuer, das sich gespenstisch hin und her bewegt. Gas, das bei der Ölförderung freigesetzt wird, erzählt Dima, der vor zwanzig Jahren aus Tatarstan hierherkam. Ein Pionier der ersten Stunde.

Die Arbeiter stehen herum, es gibt nichts mehr zu tun. Erst tags darauf erwarten sie einen Container zum Abtransportieren und ein Spezialgerät, um eingefrorenes Öl herauszuschmelzen. Mindestens einen Tag wird das dauern, meint Jewgenij. Er stammt aus Jaroslawl und hat schon im Jemen Öl gefördert. Der Ölflecken, an dem sie zugange sind, umfaßt etwa 40 Kubikmeter. Weicht man einen Schritt vom Trampelpfad ab, sinkt der Fuß knöcheltief ein. Ölschmiere weit und breit. Das Wasser im Sturzbach nebenan ist grünbraun. Gerade eben haben sie einen jungen Fuchs notdürftig verarztet, der der flockigen Schneedecke traute. „Schade drum“, zuckt Jewgenij mit den Schultern, „alles verklebt, es war wohl schon zu spät.“

Doch was macht das dort, wo nicht einmal die Menschen richtig versorgt werden? Keiner weiß, wie viele derartige Stellen es noch gibt. „Öl läuft hier immer aus“, winkt einer gleichgültig ab.

Die Mengenangaben der verschiedenen Organisationen, die sich eingeschaltet haben oder zwangsläufig Stellung beziehen mußten, weichen erheblich voneinander ab. Die Experten von Greenpeace hatten wohl recht: Das wahre Ausmaß läßt sich wegen der Witterung gar nicht mehr ermitteln. Komineft bleibt bei den 14.000 Tonnen. Die Grünen in Ussinsk gehen von 100.000 Tonnen aus. Amerikanische Berechnungen nennen nach wie vor die doppelte Menge. Doch allein die 14.000 Tonnen würden schon 260 Eisenbahncontainer füllen.

Rudolf Alexandrowitsch macht ein mürrisches Gesicht. Es ist 9 Uhr vormittags. Im Norden beginnt der Tag mit der Dämmerung um 6 Uhr, gegen 3 bricht die Nacht herein. Alexandrowitsch erfüllt den Posten eines Pressesekretärs in der örtlichen Verwaltung. Man hat ihn aus dem Schlaf gerissen. So viel gearbeitet wie in den letzten Tagen, nachdem der Vorfall in der westlichen Presse auftauchte, haben die Bürokraten hier wohl noch nie in ihrem Leben. Die Erschöpfung steht ihnen im Gesicht, ihren Widerwillen können sie nur notdürftig kaschieren. Auskünfte mögen sie nicht mehr geben, mit der Begründung: „Ihr übertreibt doch alles.“ Alexandrowitsch nennt die bescheidene Fläche von 26 Hektar, die verdreckt ist. In anderen Berechnungen wurden 68 Quadratkilometer aufgeführt, die in Mitleidenschaft gezogen worden seien.

Jewgenij und seine Truppe sind seit zwei Monaten im Einsatz. Die Firma Priroda (Natur) hat sie angeheuert, um den Schaden zu beheben. Früher arbeiteten sie für Komineft. Nach der Havarie der Pipeline wurden sie entlassen. „Es gibt keine Bohrabeiten mehr für euch“, soll die einfache Begründung gewesen sein. Die Männer sind verbittert. Gott sei Dank fanden sie bei Priroda Arbeit.

Wer diese Firma ist, wem sie gehört, wodurch sie sich finanziert, kann keiner von ihnen sagen. Das Geflecht von Firmen, Aktiengesellschaften und russisch-ausländischen Gemeinschaftsunternehmen ist schier undurchschaubar. Keiner vor Ort ist bereit, Licht in dieses Dunkel zu bringen. Steht doch hinter allem nur ein Konzern: Komineft, der sich im September durch eine Fusion mit Unternehmen in Uchta in einen noch größeren Giganten namens Komitek verwandelte. Die Aktionärsgesellschaft wählte Leonidow zum Präsidenten. Angeblich sei die horrende Besteuerung durch Moskau Grund für die Verschmelzung gewesen, so der Chef der Lokalzeitung Ussinskoje Now, Sultanow.

Gleichzeitig wurden Arbeitsplätze wegrationalisert. Der Redakteur bedauert das, selbstverständlich. Er weiß viel mehr, will aber nicht reden, wie alle hier, die gut leben. Auch er spielt alles herunter und will einem einreden, man könne die komplexe Materie in so kurzer Zeit nicht begreifen. Eine typische Masche der schmarotzenden Schichten überall in Rußland. Jewgenij und seine Kumpel haben seit März keine Kopeke von Komineft erhalten, auch nicht nach ihrer Entlassung. Dem Konzern gehe es schlecht. Abenteuerliche Begründungen werden seitens der Konzernleitung vorgebracht. Es gebe keine Abnehmer für das Öl. Andere wiederum kämen ihren Verpflichtungen nicht nach. Kurzum keine Mittel im Konzernsäckel. Obwohl der Betrieb an jedem Gemeinschaftsunternehmen mit Westkonzernen zu 51 Prozent beteiligt ist. Die ausländischen Unternehmen zahlen hingegen ihre Löhne, anteilig in Rubel und Dollar. Sie liegen um das Doppelte bis Dreifache über dem, was Komineft seinen Arbeitern zukommen läßt.

Damit die Bevölkerung nicht ganz vor die Hunde geht, hat Komineft eine eigene Lokalwährung geschaffen. Der Volksmund nennt sie „Leonidowka“, nach dem Präsidenten. Der Nachteil: Mit Leonidows Spielgeld kann man nur in konzerneigenen Läden einkaufen. Nicht einmal der Kindergarten oder die Miete läßt sich damit begleichen. Wanja, aus Jewgenijs Brigade, ist 32; er kam vor elf Jahren als Komsomolze nach Ussinsk und blieb. Er wohnt in der Siedlung Pripolarna, 60 Kilometer hinter Ussinsk. „Guck dir das an!“ Wanja zeigt auf ein Hinweisschild an der Weggabelung, wo man zu seinem Ort von der Hauptstraße abbiegt: Polarkreis 10 km. „Sie haben den Polarkreis ein paar Kilometer weiter nach Norden verschoben, um uns keine Zulagen zahlen zu müssen. Früher waren es dorthin nur drei.“ Wanja ist stolz auf seine neue Wohnung. Eine Holzhütte mit zwei Zimmern für seine Frau und seine zwei Kinder. Auf die Toilette, ein Brettergestell, müssen sie vors Haus. In dem Verschlag, das er Bad nennt, fließt nur Kaltwasser. Die Heizung ist veraltet und kommt gegen die extremen Temperaturen nicht mehr an. Seine Frau Sascha erzählt, am Vortag sei ein Kind umgekommen. Elektroleitungen hatten Feuer gefangen, überlastet durch zusätzliche Heizkörper, weil die herkömmlichen nicht wärmen. Die Eltern waren nicht zu Hause.

Man hätte sehen sollen, wie sie bisher hausten, beschwichtigt Wanja. Zuvor hat sie das Wohnheim gezeigt, in dem jetzt das Wachpersonal absteigt. In der Gemeinschaftsküche verschlägt einem der Modergeruch den Atem. Die Decke hängt in Fetzen runter. Türen und Fenster schließen nicht. Am Eingang ein Schild aus Sowjetzeiten, das der Witterung dräute: „Arbeit ist eine Heldentat“.

Fürwahr. Sascha ist arbeitslos, und das ist ein Segen für ihre Familie. Sie bringt das einzige Bargeld nach Hause: 150.000 Rubel Arbeitslosengeld. Damit können sie ihre Ausgaben bezahlen und in privaten Läden ein wenig einkaufen.

Die Menschen in Ussinsk haben resigniert. Keiner muckt auf, keiner denkt öffentlich daran. Sie hoffen immer noch, die einstigen Pioniere, auf bessere Zeiten. Sie sind Opfer einer modernen Sklaverei und fügen sich brav. Zur Sklaverei gibt es immer eine Alternative, sie wollen sie nicht sehen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen