7. November 1989: Die Mauer muß weg!
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Es bleibt nicht bei Absichtserklärungen und Ankündigungen. Die Tageszeitungen veröffentlichten gestern den Entwurf eines Reisegesetzes. Seitdem schlagen die Wellen hoch. Besonders verärgert sind die Leute über einen Passus im Entwurf, demzufolge „Reisende keinen Anspruch auf Reisezahlungsmittel“ hätten. Das Jugendfernsehen Elf 99 strahlt am Nachmittag eine Straßenumfrage zum Gesetzentwurf aus. „Sollen wir drüben vielleicht betteln gehen?“ fragen die Leute immer wieder, sichtlich aufgebracht. Auf eine perfidere Art und Weise hätte man den Bürgern der DDR kaum zu verstehen geben können, daß ihre Arbeit, ihre Leistungen nichts wert sind. Was von der Regierung offenbar als Notventil gedacht war, wird zu einer schweren Demütigung für die Menschen. Die Übertragungen abendlicher Demonstrationen lassen ahnen, wie sehr dadurch die Stimmung gekippt ist. „Die Mauer muß weg!“ ist allenthalben zu hören. Die absurdesten Bilder kommen in diesem Zusammenhang aus Dresden. In der ersten Reihe des Umzugs laufen dort, Arm in Arm mit den anderen Demonstranten, SED-Bezirkschef Modrow und Oberbürgermeister Berghofer, und hinter ihnen rufen die Leute: „Wir sind keine Fans von Egon Krenz!“
Ich sitze mit einigen der Trotzkisten aus dem Westen vorm Fernseher, die ich am Samstag auf der Demonstration kennengelernt habe und die mich heute besuchen. Einer sagt schließlich: „Die Sache ist doch klar, jetzt müßt Ihr dafür sorgen, daß die Mauer aufgemacht wird.“ Ich wehre erschrocken ab. Chaos sei das einzige, was dann eintreten würde, wende ich ein und ernte damit Gelächter. Anarchisten, die Angst vorm Chaos haben, antworten meine Besucher, so etwas sei ihnen noch nicht untergekommen. Mir eigentlich auch nicht. Wolfram Kempe
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