: Im ersten internationalen Kriegsverbrecherprozeß zu Bosnien geht es dem Chefankläger Richard Goldstone darum, den systematischen Charakter der Taten nachzuweisen – gegen starken politischen Druck Aus Genf Andreas Zumach
Verbrechen auf Anweisung
Das Material ist erdrückend. Zehn Berichte hat inzwischen allein Polens Ex-Premier Tadeusz Mazowiecki, der im August 1992 eingesetzte Sonderberichterstatter der UNO-Menschenrechtskommission zur Lage in Ex-Jugoslawien, vorgelegt. Zusätzlich untersuchte seit Oktober 1992 eine Kommission von fünf Experten die seit Januar 1991 verübten Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Ihr Bericht umfaßt 3.000 Seiten. Dazu kommen über 50.000 unveröffentlichte Seiten, auf denen Tausende Morde, Folterungen, Vergewaltigungen und andere Verbrechen detailliert beschrieben werden. Viele der geschilderten Einzelverbrechen galten der „ethnischen Säuberung“ ganzer Dörfer, Städte und Regionen. Über drei Millionen EinwohnerInnen Bosniens und Kroatiens wurden seit Mitte 1991 aus ihrer Heimat vertrieben, mindestens 200.000 ZivilistInnen ermordet.
Der UNO-Sonderberichterstatter und die Expertenkommission sehen den Tatbestand des Genozids erfüllt. Laut ihren Berichten sind die Serben für rund 80 Prozent aller begangenen Verbrechen verantwortlich, die Kroaten für den größten Teil der restlichen 20 Prozent. Die Muslime sind die Hauptopfer. Das gesamte Material liegt dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag vor.
Doch es hat einen entscheidenden Mangel: Weder Mazowiecki noch die Völkerrechtsexperten hatten das Mandat, mit Blick auf künftige Gerichtsverfahren Opfer und ZeugInnen auch zu vereiden. Um überhaupt Anklageschriften formulieren zu können, müssen Goldstone und seine 39 Ermittlungsbeamten dies jetzt nachholen: ein Rennen gegen die Zeit. Viele ZeugInnen sind inzwischen unbekannt verzogen und müssen neu aufgespürt werden. Andere sind in Gefahr, unter Druck gesetzt oder gar ermordet zu werden.
Massive Behinderungen auf der politischen wie der bürokratischen Ebene der UNO in New York haben die Arbeitsaufnahme des Tribunals immer wieder verschleppt und behindern seine Effektivität bis heute. Zweimal blockierten Rußland und Großbritannien im Sicherheitsrat die Ernennung eines Chefanklägers. Und bis heute ist das vom Sicherheitsrat bewilligte Budget für das Tribunal völlig unzureichend: Statt der vorgesehenen 50 erhielt das Gericht nur 17 Millionen Mark. Ankläger Goldstone hat intern mit seinem Rücktritt gedroht, wenn das Tribunal für 1995 nicht die Mittel für 50 zusätzliche Ermittler erhält.
Wird die Beweissammlung auch künftig erschwert, könnte Goldstone scheitern. Noch zeigt er sich zuversichtlich, seinen Auftrag ohne Ansehen von Personen und ohne politische Rücksichten umsetzen zu können (siehe Interview). Wobei auch Goldstone weiß, daß der Sicherheitsrat eine Amnestie für bestimmte Personen beschließen kann, wenn ihm dies opportun erscheint. Doch selbst wenn dies nicht geschieht und das Tribunal ausreichende Beweise zusammentragen kann, um auch politische Führer zur Rechenschaft zu ziehen: Ihr Erscheinen vor dem Tribunal ist nicht garantiert. Zwar kann das Tribunal bei einer Weigerung bestimmte Zwangs- und Sanktionsmaßnahmen beantragen, verhängt werden müssen sie jedoch vom Sicherheitsrat.
Im Verfahren gegen Tadić will Goldstone anhand von Befehlsstrukturen den systematischen Charakter der Kriegsverbrechen beweisen. Gegen Tadić wurde gestern auch in Karlsruhe Anklage erhoben. Ihm werden durch viele Zeugen grauenhafte Verbrechen zur Last gelegt. Nach UNO-Angaben wurden in seinem Heimatbezirk Prijedor 43.000 von 50.000 Muslimen ermordet oder vertrieben. Allein in dem Lager Omarska soll es 5.000 Tote gegeben haben.
Goldstone liegen zahlreiche Indizien vor, wonach Tadić einen Großteil der ihm vorgeworfenen Verbrechen auf Anweisung aus dem Hauptquartier des bosnischen Serbenführers Radovan Karadžić in Pale begangen hat. Goldstone hofft, daß Tadić vor dem Tribunal auspackt und Vorgesetzte oder Befehlsgeber belastet. Um Tadić dazu zu bewegen, soll ihm möglicherweise eine Kronzeugenregelung angeboten werden. Dies wäre nach den Statuten des Tribunals möglich, vor einem deutschen Gericht aber nicht – hierin liegt der eigentliche Grund, warum Goldstone jetzt die Auslieferung Tadićs aus deutschem Gewahrsam beantragt hat. Die Karlsruher Bundesanwaltschaft will dem Ersuchen stattgeben. Ursprünglich hatte es in Den Haag geheißen, das Verfahren gegen Tadić solle vor einem deutschen Gericht stattfinden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen