■ Hoffnungsvolle Zeichen nach der Kommunalwahl in NRW: Kulturrevolution auf leisen Sohlen
Für die Lagerpolizisten aller politischen Schattierungen bedeuten die neuen kommunalen Bündnisse in NRW so eine Art Arbeitsbeschaffungsprogramm. Die Verantwortung dafür trägt das Wahlvolk. Vielerorts weist der Beton schon beängstigende Risse auf. Das ruft die besorgten Betonbauer auf den Plan. Bei den Bündnisgrünen gibt einmal mehr der linke Landtagsabgeordnete Daniel Kreutz die Richtung vor. Schon nach den ersten Meldungen über schwarz- grüne Annäherungsversuche meldete Kreutz sich schriftlich zu Wort: „Schon jetzt muß festgestellt werden, daß einige Tage schwarz-grüner Verunsicherung für die Partei schädlich waren und Hypotheken für unsere Chancen bei der Landtagswahl aufbauen.“ Doch es half alles nichts. Heute etwa wird der „dramatische Kurswechsel“ (Brigitte Schumann, MdL) im Rathaus Mülheim ratifiziert.
Inzwischen fürchten nicht mehr nur die linken Hardliner um den Ruf der Partei. Auch so manchem Realo-Strategen zittern angesichts von knapp 20 neuen schwarz-grünen Bündnissen im Lande die Knie. Von einem „verhängnisvollen Signal“ gegen die eigene rot-grüne Klientel ist die Rede. Dabei bleibt Rot-Grün die dominierende Farbmischung. In 18 Großstädten und Kreisen und Dutzenden von Gemeinden bestimmen die Grünen zusammen mit der SPD künftig erstmals den Kurs mit. Ein atemberaubender kommunaler Machtzugewinn, der eigentlich keinen Grund für schwarz-grüne Hasenfüßigkeit böte. Tatsächlich haben die Bündnisgrünen keine Veranlassung, die neue Beweglichkeit herunterzuspielen oder sich ihrer gar zu schämen. Mit der kommunalen Antiblockpolitik knüpfen die Grünen an ihre besten Traditionen an: Mutig die als sachlich richtig erkannten Wege zu beschreiten – im Zweifel auch gegen die aktuelle Befindlichkeit der eigenen Klientel –, solches Verhalten galt einmal als Aushängeschild der Partei. Eine grüne Partei, die aus Angst vor Stimmenverlusten Tabubrüche scheute, wäre gänzlich überflüssig. An bloßen Stimmenmaximierern mangelt es im deutschen Parteienangebot nicht. Im übrigen ist noch längst nicht ausgemacht, daß die WählerInnen die neue grüne Beweglichkeit nicht honorieren. Die Zahl derer nimmt ständig zu, die der ideologischen Phrasendrescherei überdrüssig sind. Das sehr differenzierte Wahlverhalten bei der Doppelwahl am 16. Oktober – über 10 Prozent der WählerInnen wählten für Bonn eine andere Partei als in den Kommunen – zeugt davon. Darin spiegelt sich die gesellschaftliche Komplexität wider. Rot, Grün oder Schwarz pur verliert an Attraktivität, weil die Menschen individuell je nach Problem mal sozialistische, ökologische oder konservative Antworten als angemessen erachten. Das Ringen um Lösungen tobt in jeder Brust.
In Gladbeck bescheren uns die Grünen einen CDU-Bürgermeister, der in Flüchtlingsfragen humaner agierte als die SPD vor Ort. In Bielfeld fegt Rot- Grün die Bürgerkoalition aus dem Rathaus und inthronisiert den ersten Bürgermeister türkischer Herkunft in einer deutschen Großstadt. Vielfalt statt Einfalt. Das ist genau die richtige Antwort. Walter Jakobs
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