: Verzagter Beethoven
■ Das Orchester des 18. Jahrhunderts gastierte in der Musikhalle
Gelichtete Reihen in der Musikhalle. Befanden wir uns in einem Stockhausen-Konzert? Nein, auch der philharmonische Mainstream hat seine Gesetze. Frans Brüggen und das Orchester des 18. Jahrhunderts spielten alte Lieblinge in unkonventioneller Interpretation.
Musik der Klassik auf Instrumenten ihrer Zeit zu spielen, ist als Idee so neu nicht. Nur das Publikum ist's nicht gewohnt. Sind wir Zeit-Zeugen eines Paradigmenwechsels in der Interpretation Beethovenscher Symphonik? John Eliot Gardiner zum Beispiel hat mit seinem auf authentischen Instrumenten gespielten Beethoven-Zyklus bewiesen, daß das Revolutionäre nicht unbedingt eine Frage der Lautstärke sein muß, sondern auch mit schnelleren Tempi und einem kämpferischen Ensemble-Geist zu tun haben kann. Für Frans Brüggen gilt das nicht in dem Maße wie für Gardiner. Sein Beethoven klingt heterogen, nicht so kompakt wie man ihn sich philharmonisch wünscht. In der 2. Sinfonie von Beethoven pulsen rasche Tempi durch eine sich von Mozart emanzipierende, kämpferisch sehr moderne Orchestersprache. Der für „authentische“ Orchester so typisch angerauhte Klang achtet nicht auf Super-Perfektion, sondern mehr auf solistische Nuancen. Merkwürdig lispelnde Holzbläser, mehr klopfende als dröhnende Pauken gestalten einen hübsch zerzausten Beethoven-Klang von kammermusikalischer Transparenz. Nicht der raunende Nationalton, sondern der gleichwohl für humanistische als auch für ästhetische Utopien einer neuen Musik des frühen 19. Jahrhunderts kämpfende Ton verschafft sich hier Luft zum Atmen.
Mit einem gewissen Anflug von Schüchternheit inspirierte Brüggen das kleine Orchester, vermied den Knalleffekt und fand doch den dramatischen Puls einer Musik, die wahrhaft revolutionär war. Mit respektvoller Distanz, so als wolle er das solistische Spiel nicht stören, gestaltete Brüggen mikrosinfonische Abläufe. Nur gelegentlich feuerte er mit karateartigen Handkantenschlägen das authentische Treiben an. Auch Schuberts 3. Sinfonie und die Overtüre im italienischen Stil rieben sich wollüstig am struppigen Originalklang.
Sven Ahnert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen