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Mehr als eine Million demonstrieren auf Roms Straßen ein neues Selbstgefühl der ArbeiterInnen. Die Aktionseinheit reicht bis hin zu den „Linksfaschisten“. Ministerpräsident Silvio Berlusconis Tage scheinen gezählt zu sein. Aus Rom Werner Raith

„Europas größte Nachkriegs-Demo“

Die ersten Busse standen, fein säuberlich von helmbewehrten Polizisten abgefangen und an die Zufahrtsränder geleitet, bereits gegen vier Uhr früh nahe dem Fernsehzentrum Saxa Rubra, an der Via Tiburtina, der Appia und der Aurelia in Rom. Demogruppen aus ganz Italien entquollen den Gefährten, mit teils witzigen, teils bösen Spruchbändern – und alle nur beseelt von dem einen: Regierungschef Berlusconi zu beweisen, daß der vor genau einem Monat durchgeführte Generalstreik keineswegs „eine einmalige, eher zufällige Manifestation von Millionen war, sondern ein Zeichen neugefundener Arbeitersolidarität“, so einer der vielen lokalen Gewerkschaftssekretäre beim Aussteigen aus dem Bus. „Du brauchst dir nur klarzumachen, unter welchen Umständen wir hierhergekommen sind“, sagt Emilia Di Lerma aus Asti und hält uns „zum Beweis“ eine lehmverschmierte Jeanshose vors Gesicht: „Mit der habe ich bis gestern abend um elf noch auf unseren Felder Schlamm weggeschaufelt, von der Überschwemmung, dann ging's in den Bus, ich bin sofort eingeschlafen und erst jetzt wieder aufgewacht. Dem werden wir's zeigen.“

„Dem“, das ist Berlusconi. Er sollte zu spüren bekommen, daß „seiner Arroganz nun immer engere Grenzen gesetzt werden“, so ein Flugblatt der Sektion „Serena Grandi“, das drolligerweise auch den Text von „Bandiera rossa“ enthält, Begündung eines Verteilers: „Die Leute haben sich das schon so lange nicht mehr zu singen getraut, wer weiß, ob die das noch können.“ Sie können es – aus mindestens sieben der Busse, die aus Alessandria ankommen, tönt das alte Rebellenlied. Und als die Demonstranten, noch vor Beginn des eigentlichen Zuges, zur Piazza San Giovanni an einem alten Wahlkampfplakat der neofaschistischen „Alleanza nazionale“ vorbeikommen, tönt sofort ein anderes Lied aus voller Kehle – „Ciao bella, ciao“.

Das freilich gibt zunächst etwas ungutes Gemurmel – wie sich herausstellt, sind bei den Demonstranten keineswegs nur stramme Linke oder katholische Gewerkschafter zugange, sondern durchaus auch Faschisten von altem Schrot und Korn. Es dauert einige Zeit, bis diese die Kollegen mit den roten Tüchern der CGIL überzeugen, daß sie „Rautianer“ sind, Anhänger des „proletarischen Flügels“ der Neofaschisten, die sich vehement gegen das Bündnis mit dem „Großkotz Berlusconi“ gewehrt haben und Parteichef Gianfranco Fini heftig befehden.

Gegen neun Uhr geben die Gewerkschaftsführungen über Handtelefon und Megaphon erste Zahlen bekannt: mehr als tausend Busse sind gekommen, zweihundert mehr als angekündigt.Immer mehr Polizisten nehmen ihre Helme ab, marschieren fast wie eine eigene Demonstrationsformation mit – ein in Italiens ansonsten stets konfrontationsreicher Politgeschichte eher seltenes Bild. Um elf Uhr die ersten offiziellen Zahlen aus dem Polizeipräsidium: die angepeilte Million ist erreicht, ein wahrer Sturm der Freude durchläuft Rom, das inzwischen flächendeckend von Demonstranten durchzogen wird. In diesem Augenblick ist klar, daß es heute „nur einen einzigen Verlierer gibt“, wie selbst ein hoher Regierungsbeamter auf dem Weg zum Sitz des Ministerpräsidenten am Palazzo Chigi einräumt – den Namen lieber doch nicht nennt.

Berlusconi jedenfalls hat nun auch seine zweite große Herausforderung verloren. Wieder einmal hat er „nur seinem Instinkt und nicht seinen Ratgebern vertraut“, wie Gewerkschaftsführer Sergio Cofferati in seiner Rede sagt, und das trifft den Sachverhalt ziemlich genau. Nach den Demos von mehr als drei Millionen am 14. Oktober und der damaligen Arbeitsniederlegung von über 15 Millionen Menschen hatte er wohl gedacht, daß sich derlei nicht wiederholen ließe; dazu hatte das Hochwasser einerseits den „Zustrom“ der besonders gut organisierten oberitalienischen Industriearbeiter unwahrscheinlich gemacht und auch Rom-intern der Manifestation einiges von der Attraktivität genommen: Angesichts der vielen Toten hatten die Gewerkschaften den zur Mehrung der Attraktivität als großes Volksfest gedachten Charakter der Demo verändert und die geladenen Sänger und Schauspieler ebenso wie die Satiriker und Kabarettisten zum Schweigen verdonnert.

Doch die Mimen und Spötter kamen trotzdem, marschierten in den ersten Reihen der Demos mit, schüttelten die Hände der Umstehenden wie sonst nur der Papst, wurden damit noch anfaßbarer, als es der geplante Ablauf gestattet hätte. Kaum jemand, der sich beschwerte, weil die Innenstadt stundenlang blockiert war. „Lieber steckenbleiben und dafür Berlusconi loskriegen“, schrie ein Rentner ins Mikrophon an der Piazza del Popolo – minutenlanger Applaus.

Gewerkschaftschef Cofferati, sowieso nicht der gesprächigste, konnte sich da am Ende auf einen einzigen Satz beschränken: „Es war die größte Demonstration in ganz Europa seit dem Krieg.“ Und damit hat er nicht übertrieben.

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