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Corporate-Maulwurf-Identity in Mitte

■ Anblicke für die Ewigkeit: Historische Fotos von Grabungsarbeiten der U-Bahn

Es gibt heimliche Bestseller. Solche Bücher kauft niemand – man bekommt sie geschenkt. Und zwar werden sie deswegen so gerne verschenkt, weil ihnen etwas Immerwährendes, Ewiggültiges anhaftet. Noch in zehn Jahren kann man so ein Exemplar aus der Bücherwand nehmen, und es – sich des Anlasses des Beschenktwerdens erinnernd – durchblättern. Und weil sie so oft verschenkt werden, werden sie immer wieder neu aufgelegt. Sie sind eben stets aktuell, aktuell wie die Bibel.

Auf ganz eigene Art könnte das auch auf „Berlin-Mitte um die Jahrhundertwende“ zutreffen, das mit der zweiten Auflage vermutlich erst am Anfang seiner Geschichte steht. Kaum schlägt man den Band mit historischen Fotos auf, sieht man Bauzäune, aufgerissene Straßen, provisorische Hauseingänge – das ganze Trottoir ein offener Tagebau. Nur die abgebildeten Pferdekutschen, die Schupos mit Zwirbelhut und die vielen jüdischen Geschäftsnamen an den Hausfassaden verraten, daß es sich um alte Bilder handelt und nicht um Dokumente der sisyphusartigen Bürgersteigausgrabungswendezeit.

Ein namentlich nicht bekannter Fotograf lieferte die Bilder als Auftragsarbeit für die „Gesellschaft für elektrische Hoch- und Untergrundbahn“, die einstige BVG. In deren Archiven fand sich das Baustellen-Material und wurde zum Buch gebunden. Der Herausgeber Jürgen Grothe hat den alten Motiven einige Bilder aus der heutigen Zeit gegenübergestellt. Leider sieht man hierauf nicht die neuartigen Bauarbeiten an der U 2 oder an der S-Bahn- Strecke zwischen Friedrichstraße und Alexanderplatz, sondern einfach Straßenansichten. Da ja janz Berlin die nächsten zwei Jahre pendelt, hätte diese Aktualisierung vielen derzeitigen SchienenersatzverkehrsbenutzerInnen große Freude gemacht. Auch die BewohnerInnen der Oststadtteilbezirke hätten einen identitätsstiftenden, sie ins Jahrhundert der Bürgersteiggrabungen einbeziehenden Fotoband verdient.

Jürgen Grothe hat auch die knapp bemessenen Baustellenbildunterschriften sowie die Einleitung verfaßt. Sie schwanken stilistisch zwischen Landvermesserblick und BVG-Prosa: „Aus der Vergangenheit entrissen, mag manch einer beim Anblick der Straßen von einst Trauer und Gebrochenheit empfinden.“ Neben dieser melancholischen Einstimmung erfährt man über Berlin- Mitte leider nichts Nennenswertes, aber da ja auch insgesamt nur ein größeres Quarée der Innenstadt dokumentiert wird, kann man bei Bedarf getrost auf den prachtvollen Berlinfotoband zurückgreifen, den man im Vorjahr geschenkt bekommen hat.

Bisher unbestätigten Gerüchten zufolge sollen die Berliner Verkehrsbetriebe ihre MitarbeiterInnen mit diesem Buch weihnachtlich erfreuen, außerdem soll daran gedacht sein, es im Rahmen der Corporate-Maulwurf-Kampagne kostenlos zu verteilen. Beides wäre sehr sinnvoll, denn schön ist an diesem Band nicht nur die Darstellung der nun fast schon hundertjährigen Bautätigkeit der Verkehrsbetriebe, sondern auch die beruhigende Kontinuität des Stadtpanoramas: Der Berlin-Flaneur ist und bleibt immer leicht in Staub gehüllt, sein Blick schweift an den Bauzäunen entlang, vorsichtig stolpert er über unebene Pflastersteine, weicht behend schwenkenden Kränen aus, wechselt leichten Fußes die Straßenseiten und sollte er mal unhumorig mit den Zähnen knirschen, dann knirscht im Ostteil dieser schönen Stadt immer ein bißchen mecklenburgischer Sand mit. Caroline Roeder

Jürgen Grothe (Hg.): „Berlin- Mitte um die Jahrhundertwende“, 119 Seiten, Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung, 36 Mark.

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