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Allein für Wohnungen fehlen 22 Trillionen Rubel

■ Wohnungsnot, Selbstmorde, Personalabbau: Die russische Armee hat Probleme

Zum ersten Mal in seiner Geschichte verfügt Rußland über eine wirkliche Arbeiter-und-Bauern- Armee: Denn Bauern und Arbeiter können es sich nicht leisten, ihre Söhne vom Wehrdienst freizukaufen. An die 10 Millionen Rubel kostet der Freikauf in der Provinz, in den großen Städten gar zwischen 20 und 30 Millionen Rubel, 10.000 bis 15.000 Mark.

Dieser Tage ist Einberufung in Moskau. 6.000 Wehrpflichtige werden offiziell erwartet. Doch die Jungen, die sich in Moskaus Einberufungsbüro einfinden, stellen eine Minderheit. Es sind die, die es nicht schafften, den Wehrdienst zu umgehen. Auch ein paar andere sind dabei, enthusiastische Vaterlandsverteidiger, meist aus Offiziersfamilien, die die kriegerische Tradition fortsetzen wollen. Aber sie lassen sich an einer Hand abzählen. Die meisten Gesichter sind gezeichnet von Resignation und Widerwillen. Die Luft im Büro ist wodkaschwanger. Anders läßt sich der Gedanke an den Wehrdienst wohl nicht ertragen.

28.000 Jugendliche haben sich dieses Jahr schon vor der Erfassung gedrückt, schrieb die Regierungszeitung Rossiskaja Gaseta kürzlich. Rechnet man noch die 70 Prozent der Wehrdienstpflichtigen landesweit hinzu, die aus Ausbildungsgründen nicht dienen müssen, deren Gesundheit angeschlagen ist und deren Familienbeziehungen eine „Freistellung“ ermöglichen, sind es ganze 19 von 100, die ihrer Verpflichtung nachkommen. Kaum einer sieht im Verfassungsauftrag, die Heimat zu verteidigen, mehr als eine inhaltsleere Formel. Selbst Freiwillige empfinden ihren Dienst schnell als „Lagerstrafe“.

Die Zustände für die Wehrpflichtigen sind deprimierend. Nach vertraulichen Angaben des Verteidigungsministeriums sterben wöchentlich fünf bis acht Wehrdienstleistende, ohne das Vaterland verteidigt zu haben. Die Selbstmordrate unter den Gemeinen wuchs erheblich. Schwerwiegende Disziplinverstöße nahmen um ein Drittel zu, während zwölf Prozent mehr Soldaten mit der Waffe für demütigende Behandlung Rache nehmen. Ein trauriges Bild, das das Ansehen der Armee in der Gesellschaft noch weiter sinken läßt.

Mittlerweile entstand auch eine Reihe von Organisationen, die Unwilligen und Verweigerern Rechtsberatung und andere Hilfe anbieten. Aktiv arbeitet seit Jahren das „Komitee der Soldatenmütter“, das zumindest eine menschliche Behandlung ihrer Söhne verlangt.

Die Armeezeitung Krasnaja Swjesda beklagte unlängst das fehlende Interesse der Medien an den Lebensbedingungen der Militärs. In der Tat nimmt die Gesellschaft wenig Anteil am Schicksal der Berufssoldaten – im Gegensatz zu dem der Gemeinen. Die Militärs stellten immer eine privilegierte Kaste dar. Sie verdienten gut, sie konnten in eigens für sie eingerichteten Geschäften früher kaum erschwingliche Waren für wenig Geld kaufen. Sie standen über der Gesellschaft und führten sich auf wie eine neue Aristokratie, die von Generation zu Generation ihren Rang weitergab. Gestützt durch eine Propagandamaschine, die ihre tatsächlichen Dienste und Leistungen überhöhte.

„Sollen sie doch die gleichen Probleme haben wie wir“, ist daher die allgemeine Ansicht heute. Den Militärs bleibt das unbegreiflich. Der Vizevorsitzende des Offiziersclubs in Nischnij Nowgoword, Rudolf Kirill, beschreibt den Statusverlust mit einem schillernden Bild aus dem Soldatenleben: Wie wenig der Offiziersberuf heute gelte, merke man daran, wie viele Mädchen des Sonnabends vor den Offiziersschulen warteten. Nämlich kaum eins. Die unsichere finanzielle Lage und der Privilegienverlust machen eine Ehe mit einem Militär nicht mehr vorteilhaft. Klassenaufstieg per se ist nicht mehr inbegriffen.

Kirill fordert vom Staat, er solle ihnen Land und Materialien zur Verfügung stellen, damit sie eigenhändig Häuser bauen können, um dem Wohnungsengpaß abzuhelfen. Daß diese Dinge jetzt Geld kosten, das jeder Durchschnittsbürger aufzubringen hat, übersieht er. Sie fühlen sich im Stich gelassen. Die Rücksiedlung der Offiziere aus den jungen Nachfolgestaaten scheitert nicht allein am mangelnden Geld aus Moskau. Häufig sind es die kleinen Städte, die die Extrakosten für die Erschließung der neuen Wohngebiete nicht tragen wollen. Auch hier fühlt man sich den Militärs nicht übermäßig verbunden. Das schmerzt die Armeeangehörigen, als hätten sie es vorher nicht gewußt.

Bis Ende 1995 wollte das Verteidigunmgsministerium insgesamt 220.000 Wohnungen fertiggestellt haben. Es stehen bisher nur 85.000. Um das Programm zu erfüllen, müßten, so schrieb die Armeezeitung, im nächsten Haushalt über 22 Trillionen Rubel bereitgestellt werden. Das umfaßt mehr als die Hälfte dessen, was für den gesamten Verteidigungshaushalt vorgesehen ist. Etwa 170.000 Familien besitzen laut der Armeequelle keinen eigenen Wohnraum. 79.000 überwintern in Diensträumen oder mieten private Quartiere an. 52.000 leben in Wohnheimen oder Hotels. Manche müssen mit Containern oder Zelten vorliebnehmen.

Präsident Jelzin nannte vor den versammelten Größen des Generalstabs Anfang der Woche eine Sollstärke der Armee ab 1. Januar 1995 von 1.917.000 Mann – gegenüber einstmals vier Millionen. Über den jetzigen Stand gibt es keine klare Information. Manche Berechnungen nennen eine Zahl, die die künftige Sollstärke jetzt schon um 400.000 unterschreitet: anderthalb Millionen.

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