Der Mann als Kälte-Maschine

Streifzug durch den männlichen Narzißmus: „Verhaltenslehren der Kälte“, eine Studie des Germanisten Helmut Lethen über Lebensversuche zwischen den beiden Weltkriegen  ■ Von Ulrike Baureithel

Die Stirne zusammengefaltet, den Unterkiefer weit vorgeschoben, die Augen stechend, der Ausdruck undurchdringlich: Mit dem Habitus des „kalten Blicks“ ausgestattet, bevölkern die ehemaligen Krieger den politischen Fechtplatz der Ersten Republik. Ihre Schmerzempfindlichkeit haben sie ebenso in den Schützengräben gelassen wie das Gewissen ihrer Vätergeneration, das sie im Bewußtsein des eigenen Rechts in das blutige Abenteuer schickte. Den schuldunwilligen und -unfähigen Söhnen hingegen bleibt die Scham über die Weltblamage des verlorenen Krieges. Da zieht der Stadtbewohner den Hut noch ein wenig tiefer ins Gesicht und tut, als ob ihn das gar nichts anginge: So kehrt der soldatische Mann in seiner zivilen Panzerung als kalte persona wieder.

Diese „Ikonen des gepanzerten Ich“ sind, wie wir schnell vermuten, kaum die realitätstüchtigen Abbilder des Weimarer Massenbewußtseins, sondern sie stammen aus den geschärften Schreib-Bajonetten einer Avantgarde, die sich von den Verhaltensformen der Distanz entlastende Wirkung verspricht. Mit dem Rückgriff auf einen vorbürgerlichen Typus rationalen Verhaltens postuliert die jüngere Kriegsteilnehmergeneration ihre Skepsis gegenüber der trügerischen Persönlichkeitskultur der Väter und testet die Möglichkeiten eines Lebens des „als ob“ im Laboratorium der Moderne, der „provisorischen“ Weimarer Gesellschaft. Ohne diese „Denkfiguren der Kälte“, die in den zwanziger Jahren – von Schmitt bis Brecht, von Jünger bis Serner – dem lebensphilosophischen „Kulturkampf“ ein neues Schlachtfeld eröffneten, einer vorschnellen kulturkritischen Obduktion auszuliefern, nimmt der in Utrecht lehrende Germanist Helmut Lethen deren Kernfrage: „Was für ein Ding ist der Mensch?“ zum ernsthaften Ausgangspunkt seiner Re-Lektüre neusachlicher Dokumente. Das stimmt nachdenklich, hatte er das dort versammelte literarische Personal noch vor einem Vierteljahrhundert als Modefiguren des Liberalismus dem selbstverschuldeten Untergang überantwortet mit dem Verdikt: zu lau!

Dabei geht es den politisch so unterschiedlich gestimmten Kombattanten der Nachkriegszeit um nichts Geringeres als um eine Anthropologie, die die Zumutungen der lebensphilosophischen „Ursprungsmythen“ und deren Verpflichtung auf „Substanz“ radikal verwirft und der existentiellen „Geworfenheit“ der Zeitgenossen mit einem Leitfaden des Verhaltens begegnet, der zu einem Leben in der Sphäre des Zivilisatorischen befähigen soll. Als kalte persona oder Radar-Typ (in Anleihe an die begriffliche Typologie des amerikanischen Soziologen Riesman) defilieren die „Kälte-Maschinen“ über das neusachliche Parkett und kommen (wortwörtlich) erst ins Stolpern, als die Anforderungen an die heroische Männlichkeit ihre Gesichts- und übrige Muskulatur so überanstrengt, daß sie in der Figur der Kreatur den notwendigen Ausgleich suchen und als solche schließlich (zum Leidwesen mancher ihrer Erfinder) das faschistische Massenornament bilden.

Lethen findet eine Erklärung dafür bei Helmuth Plessner, dessen Anthropologie den durch „Gemeinschaft“ verseuchten modernen Nomaden in den „Gletscher der Gesellschaft“ weist und damit den vordergründigen lebensideologischen Dualismus gegen die „Wärmeinseln des Ursprungs“ (der Provinz, der sozialdemokratischen Arbeiterkultur ... und last not least: der Frauen!) zugunsten eines Lebens in der Distanz entscheidet.

In Plessners paradoxem Axiom, daß der Mensch von Natur aus künstlich sei und also nur gepanzert überlebensfähig, findet die Avantgarde eine willkommene Anschlußstelle, von der aus sie versuchsweise ihre Selbststilisierung als „Barbaren“ weitertreibt. In der Sphäre der „Uneigentlichkeit“ (über)treiben die Hochstapler Serners, die Zyniker Bleis oder die vater(lands)losen Stadtnomaden Brechts ihr Wesen bis zu dem Punkt, wo das eigene Programm überfordert und sie, nur noch durch den Hut mit der väterlichen Tradition verbunden, nach Gnadeninstanzen für die malträtierten Körper fahnden. Diese Odyssee der männlichen Selbstverleugnungen wäre (zumindest für die sarkastische Leserin) noch vergnüglicher, wenn man nicht schon im voraus wüßte, wohin die Reise geht, und daß sie, soweit weibliche Voyageure mit von der Partie sind, sie keineswegs so „lustvoll“ ist, wie Lethens eigenwillige Fleißer-Lesart glauben machen will.

Die These, daß sich die „Trennungsspezialisten“ vorwiegend im „linken Lager sammeln“ und man im rechten dem „Verschmelzungswunsch“ frönt, ist um so erstaunlicher, weil sie von Lethens Kernstück über Ernst Jünger und Carl Schmitt selbst widerlegt wird. Während Jüngers chirurgischer Schnitt das Schmerzzentrum der liberalen Gesellschaft bloßlegt und mit der Konstruktion des „Arbeiters“ das kybernetische Modell zukünftiger Wirklichkeitsbewältigung entwirft, taucht Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung, aus der die Trennungslust der neusachlichen Intelligenz ihre Emphase schöpft, nach dem Zweiten Weltkrieg ab in den akustischen Raum, aus dem einzig noch die Stimme des „Vaters“ gegen den (jüdischen) „Gesetzespositivismus“ gerufen werden kann.

Dabei entgeht Lethen der entscheidende Schritt, den Jünger über Schmitt hinausgeht: Wo nämlich Schmitt bei den Strategie der Entmischung und Ausgrenzung des „Feindlichen“ stehenbleibt, vollzieht Jünger in der „organischen Konstruktion“ des Arbeiters eben diese Inkorporation des eigentlich Unvereinbaren und schafft damit – zumindest als Denkfigur! – die körperliche Disposition des „faschistischen“ Mannes. Die behauptete strukturelle Analogie zum „Sehnsuchtstypus eines Daseins in der Distanzierung“, wie ihn Norbert Elias in den dreißiger Jahren im „höfischen Menschen“ entwirft, gehört leider zu den historischen Schieflagen dieses ansonsten begrifflich so präzisen Buches.

Derlei theoretische Amalgame sind nicht zufällig, sondern lassen sich auf ein Lektüreverfahren zurückführen, das sich zwar zunächst mimetisch dem Text annähert, dann jedoch, wie Lethen es bei Jünger diagnostiziert, „mit der Schere der Begriffe das Leben zusammenschneidet“. Zwar plädiert der Germanist eingangs und im Schlußkapitel für eine „Kultur der Vermischungen“ mit ihren „mittleren Tugenden“, die als Lehre aus den politischen Abgründen der „Verhaltenslehren der Kälte“ zu ziehen sei, und deklariert damit auch die Revision seines „Eiszeit“- Programms früherer Jahre. Mitunter aber hat man den Eindruck, als hintergehe der Autor sein eigenes Postulat, vor allem dort, wo ihn die Faszination seines Gegenstands sprachlich einholt. Die Kultur der „Uneindeutigkeiten“ gerät ihm am deutlichsten dort aus dem Blick, wo er die Phänomene aus der Wahrnehmung der Weimarer Zeitgenossen zu fassen versucht. Es ist beispielsweise durchaus nachvollziehbar, daß die polaren Denkstrukturen des Jahrzehnts als Antipoden eines elektrischen Magnetfeldes erscheinen und in ihrer Zweiheit untrennbar sind, wie Lethen dies im Rekurs auf den Germanisten Martin Lindner ausführt. Diese technizistische Metapher unterstellt jedoch naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten und hat deshalb wenig Erklärungswert für die politischen, sozialen oder kulturellen Relationen, die das Verhalten zwischen den „Polen“ in der Weimarer Republik bestimmten.

Davon abgesehen, ist Lethens Streifzug durch die „Maskeraden des virilen Narzißmus“ in der Flut germanistischer Arbeiten ungewöhnlich originell und anregend. Als „uneigentliche“ Antwort auf die neusachliche Frage, was für ein Ding der Mensch denn sei, verweist Lethen auf die „humanen Potentiale“ des Kults der Kälte, die durch den Nationalsozialismus abgeschnitten worden seien und die er in der amerikanischen Konsumkultur eher realisiert sieht als in den pessimistischen Subjektkonstruktionen der Kritischen Theorie. Als Ikone begegnet uns der „Mann mit Hut“ und hochgeklapptem Kragen übrigens auf beiden Aktionsfeldern wieder: als „Selbstbildnis mit Judenpaß“ des in Auschwitz ermordeten Malers Felix Nussbaum; als eiskalten pokerface-man liefert ihn uns die amerikanische Kulturindustrie mit Humphrey Bogart bis heute frei Haus.

Helmut Lethen: „Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen“. Suhrkamp, Frankfurt 1994. 299 Seiten, 22,80 DM

„Ich weiß Deine Werke, daß Du weder kalt noch warm bist. Ach, daß Du kalt oder warm wärest! Weil Du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich Dich ausspeien aus meinem Munde.“

Offenbarung 3, 15-16