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Aristokratische Maladie à deux

Brian Gilbert erzählt in „Tom und Viv“ die Geschichte von T.S. Eliots erster Ehe, allerdings in einer auf Kuscheligkeit orientierten Version – als hätte es dir und mir passieren können  ■ Von Anja Seeliger

Es spricht einiges dafür, daß T.S. Eliot noch Jungfrau war, als er 1915 die Engländerin Vivien Haigh-Wood heiratete. Zwar erklärte knapp 40 Jahre später ein junger Wissenschaftler, seine Analyse von Eliots berühmtestem Gedicht „The Waste Land“ ergebe, daß der Sprecher früher rettungslos in einen jungen Mann verliebt gewesen sei, „der bald danach den Tod fand, wie es scheint durch Ertrinken“, doch konnte diese These nie durch Tatsachen erhärtet werden. Fest steht, daß Eliot sich im Jahr vor seiner Heirat häufig über seine „Jungfräulichkeit“ und Schüchternheit beklagte und mangelnden Umgang mit dem weiblichen Geschlecht für diesen unbefriedigenden Zustand verantwortlich machte. Vivien hatte vor ihrer Ehe bereits Erfahrungen mit einem jungen Lehrer namens Charles Buckle gesammelt. In ihrem Tagebuch nennt sie den jungen Mann einfach „widerlich“ und erklärt, er habe ihr Kopfschmerzen und „Neuralgie“ verursacht. Vivien war keine Jungfrau mehr.

Sie verlieben sich sofort ineinander, heiraten nach einigen Wochen heimlich und fahren nach Eastbourne in die Flitterwochen. In der Hochzeitsnacht ist das Laken so blutig, daß man an eine herkömmliche Defloration nicht einmal zu denken wagt. Eliot verläßt wortlos das Zimmer und geht an den Strand. Patsch, patsch, marschiert er mit nassen Schuhen und Hosen in das Hotelzimmer zurück. Den ganzen Weg klebt die Kamera nur auf diesen nassen Hosenbeinen, so daß man den abstoßenden Eindruck hat, Eliot wate durch das Blut seiner Frau.

Der britische Regisseur Brian Gilbert hat versucht, den Anfang der ersten Ehe Eliots mit dem gebührenden Entsetzen zu erzählen. Aber fünf Minuten später sind wir dann bei der Geschichte von „Tom und Viv“ – schon der Titel verspricht so eine Kuscheligkeit. Gilbert macht aus den beiden ein Paar, das zur Not jeder in seinem Bekanntenkreis auftreibt: Er ist ein sich genialisch gebärdender Künstler, der auf Kosten seiner Frau, die „schrecklich talentiert“ ist (wenn man nur wüßte wozu), zum erfolgreichen Star aufsteigt. Sie stirbt am Schluß der Geschichte in einer Irrenanstalt, zugrunde gerichtet von ihrem Mann und den Ärzten, die ihr „moralischen Wahnsinn“ bescheinigen, weil sie so unangepaßt und unkonventionell ist. Gilbert erzählt die Geschichte so, als hätte sie jedem passieren können, aber das ist eine Lüge. Niemand, den du und ich kennen, hat so eine Geschichte erlebt.

Als er Vivien kennenlernte, lebte Thomas Stearne Eliot seit einem Jahr in London. Er war in St. Louis, Missouri geboren, und seine Familie, Teil der aufstrebenden Kaufmannsklasse, gehörte nach Ackroyd zu den „Aristokraten im Amerika des 19. Jahrhunderts“. Als Unitarier glaubten sie an einfache Pflichten wie Sparsamkeit, Erfolg, Achtung vor jeglicher Autorität und Dienst an der Allgemeinheit. Eliot hatte in Harvard studiert, war dann aber vor den Erwartungen seiner Mutter, die sich einen Philosophieprofessor in der Familie erhoffte, nach Europa geflohen. Er hatte bereits angefangen, Gedichte zu schreiben.

Vivien Haigh-Woods Eltern waren ein achtbares Ehepaar aus den besseren Kreisen Edwardianischer Bourgeoisie. Laut dem Eliot- Biographen Peter Ackroyd liebte Vivien Theaterbesuche und „tanzte gern zu den Klängen des Phonographen; sie kleidete sich gut, wenn auch manchmal auf schockierende Art“. Sie war keine Schönheit, aber außerordentlich hübsch. Osbert Sitwell meinte, „sie müsse Eliot als Verkörperung unbekümmerter und waghalsiger Jugend erschienen sein“.

Drei Monate nach ihrer Hochzeit zogen die Eliots, bettelarm, in eine Kammer in der Wohnung des Philosophen Bertrand Russell, der mit Eliot befreundet war. Vivien schlief in der Kammer, Eliot auf einem Sofa vor der Tür. Die Hochzeitsnacht! Vivien litt seit ihrem 12. Lebensjahr an starken, unregelmäßigen und häufigen Monatsblutungen. Dazu kamen ständige Krämpfe und heftige Kopfschmerzen. Eliot war entsetzlich schüchtern, puritanisch bis zur Halskrause und mußte Zeit seines Lebens ein Bruchband tragen, weil er mit einem doppelten Leistenbruch geboren worden war. Die Hochzeitsnacht muß ein Alptraum gewesen sein.

Einige Monate später wurde Vivien ernsthaft krank. Danach ihr Mann. Und dann wieder sie. Die Liste ihrer Krankheiten ist wirklich eindrucksvoll. Lungenentzündung, Nervenzusammenbruch, Neuralgie, Migräne, Kieferentzündungen – es hört nie auf, eine ständige maladie à deux. Es muß für beide grausam gewesen sein, aber Vivien erwischte es besonders hart. Die Ärzte dachten sich ein Programm für sie aus, daß Torquemada imponiert hätte. Sie bekam alkoholhaltige Medikamente gegen Kopfschmerzen und Morphiumderivate gegen Bauchschmerzen, ihr wurde Äther zum Einreiben verschrieben und eine drastische Diät verordnet, die ihre angegriffene Gesundheit völlig ruinierte. 1930 bemerkte der Schriftsteller Conrad Aiken, daß sie aussah wie eine „von Fieberschauern geschüttelte Vogelscheuche“.

Warum blieben sie 17 Jahre zusammen? Daß man es in Gilberts Film „Tom und Viv“ auch nur ahnt, ist allein Miranda Richardsons Verdienst. Nie hat ein größeres Talent einer unwürdigeren Sache gedient. Richardson läßt sich auf nichts festlegen. Sie ist zwar die Geprügelte in diesem Film, aber keinesfalls das Opfer. Sie zeigt einen Zug von Vivien, den Russell in seiner Biographie beschrieben hat: „Er (Eliot) hat eine tiefe und ganz selbstlose Zuneigung zu seiner Frau, und sie liebt ihn wirklich sehr, aber hat von Zeit zu Zeit einen Hang zur Grausamkeit ihm gegenüber. Eine dostojewskische Grausamkeit, nicht die direkte, alltägliche Sorte.“ Vivien Eliot wurde 1936 in eine Nervenheilanstalt eingeliefert, wo sie nach elf Jahren starb.

„Tom und Viv“ von Brian Gilbert. Mit Miranda Richardson, Willem Dafoe u.a., England 1994, 125 Minuten.

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