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Mord aus Kälte oder Lauheit?

■ Helmut Lethen stellte seine Thesen zur „Kältelehre“ vor

Erkenntnis muß kalt sein. Diese Einsicht, so meint der in Utrecht lehrende Literaturwissenschaftler Helmut Lethen, einte die historische Avantgarde in Deutschland. In seinem Vortrag Kältelehren – Brecht, Jünger, Schmitt am Donnerstag im Hamburger Institut für Sozialforschung trug er neue Thesen über die geistigen Verbin-dungslinien zwischen erstem und zweitem Weltkrieg vor. Niedergeschrieben hat er sie in seinem jüngst erschienenen Buch Verhaltenslehren der Kälte: Lebensversuche zwischen den Kriegen.

Das intellektuelle Klima dieser Zeit, so Lethen, sei geprägt gewesen von einem „Kältekult“, mit dem sich das – linke wie rechte – Bürgertum gegen den „lauen“ Liberalismus mit den ästhetischen Reizen eisiger Extreme hätte abgrenzen wollen. Die Wurzeln der „Kältelehre“, so erklärt Lethen, reichten zurück bis ins 16. Jahrhundert. Ernst Jünger rekurrierte zum Beispiel auf eine Verhaltenslehre des spanischen Hofes im 17. Jahrhundert, und ab dem 18. Jahrhundert wären alle Lehren, in denen die Menschen wie Objekte dargestellt werden, als „kalt“ bezeichnet worden. Mit Zitaten belegt Lethen, wo bei Max Weber, Gottfried Benn, Theo von Doesburg und sogar bei den Marxisten das Kältemoment zu finden ist. Bei Bertold Brecht sieht er Verweise auf Auskühlung ebenso wie bei Thomas Mann, Ernst Jünger und dem rechten Staatstheoretiker Carl Schmitt.

Das gefährliche Potential der Kältelehre macht Lethen deutlich am Beispiel Helmuth Plessners. Der Anthropologe hatte 1924 mit dem Buch Die Grenzen der Gemeinschaft eine „exzentrische Position“ des Menschen zu sich selbst ausgemacht. Der Mensch (bei Plessner: der Mann) sei ein künstliches Wesen, lebe mit sich nicht in natürlichem Einklang und müsse zu sich Stellung beziehen. Was bisher interpretiert wurde als eine weitsichtige Warnung Plessners vor Preisgabe der Individualtiät, vor ideologischer Gemeinschaft und Blut-und-Boden-Romantik, erklärt Lethen als strikte Trennung der zwischenmenschlichen Lebenswelten in Analogie zu Carl Schmitt: Dessen Theorie der Freund-Feind-Verhältnisse hatte bekanntlich großen Einfluß auf die Ideologie des Nationalsozialismus.

Lethens Ausführungen, das betonte er selber, dürfen in ihrer Beschränkung auf geistige Strömungen nicht glauben machen, hinreichendes Erklärungsmuster für den Nationalsozialismus zu sein. Denn viele Fragen müssen offen bleiben, wie die nach der Auswirkung dieser Strömungen auf den einzelnen und den Alltag der politischen Praxis im Nationalsozialismus. War da nicht zumindest ebenfalls die „Banalität des Bösen“ und damit Spießigkeit und Lauheit statt Kälte, Hitze oder „Geworfenheit“ an der Tagesordnung?

Birgit Maaß

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