: Endstation Tunnel
Tausende Menschen hausen in den dunklen und feuchten Labyrinthen verlassener U-Bahntunnel und Leitungsschächte der Stadt New York / Eine junge Journalistin fand Zugang zu den „Maulwurfmenschen“ ■ Von Thorsten Schmitz
Zeit zum Lunchen unter dem Asphalt von New York City. Auf der Speisekarte von Mac steht heute, wie fast jeden Tag, „Gleis- Hase“. Allerdings muß er erst noch einen fangen. Für sich und seine Besucherin Jennifer Toth, Reporterin der Los Angeles Times. Wo Mac wohnt, herrscht kein Mangel an Gleis-Hasen. So dauert es nicht lange, bis einer an ihm vorbeihuscht. In Lichtgeschwindigkeit schnappt Mac das Vieh am Schwanz – und schmeißt es mit voller Wucht auf den Boden. Was dem Gleis-Hasen das Genick bricht. Gegrillt wird die Hauptspeise ohne Haupt und Haut am Spieß. Mac, Anfang 50, erinnert der Geschmack von Gleis-Hasen an „saftige Schweinefüße“, Jennifer Toth dreht sich der Magen um und sie verweigert die Nahrungsaufnahme. Der Hase ist eine Ratte.
Zwischen 5.000 und 25.000 Obdachlose leben unter der größten Stadt Nordamerikas – in U-Bahn- und Eisenbahntunneln. Man nennt sie die „Maulwurfmenschen“. Die Adresse der meisten lautet: Grand Central Station, weltweit der größte Bahnhof. Sie sind „Ausgestoßene in einer Welt Ausgestoßener“ (Toth), die in weitverzweigten U-Bahnschächten bis zu sieben Ebenen unter der Straße oder auf Gittersteigen über den U-Bahngleisen ihre Matratzen positionieren. In stillgelegten Tunneln und direkt unterhalb von Bahnsteigplateaus haben sie Zuflucht gefunden, zwischen Gleisen und Stromkabeln. Dort, wo es immer 15 Grad wärmer ist als oben.
Endstation Tunnel. Es sind Menschen, die das Leben unter freiem Himmel satt und freiwillig den Abstieg vollzogen haben. Die ihr Spiegelbild in den polierten Schaufenstern der Fifth Avenue nicht mehr sehen wollen, weil sie den Anblick des eigenen körperlichen Zerfalls nicht ertragen. Sie tauchen durch Gullys und Luftschächte in den Untergrund, weil sie Angst haben, von Jugendgangs zusammengeschlagen zu werden. Weil man sie in den paar staatlichen, irdischen Nachtasylen ja doch nur beklaut und, schlimmstenfalls, vergewaltigt.
Sie fühlen sich frei, sie werden nicht gesehen
Unprätentiös, leise und ohne einen Hauch von Sensationsgeilheit dokumentiert Jennifer Toth „diese Tragödie unserer Zeit“. Verkehrte Welt, denn viele Maulwurfmenschen selbst begreifen sich als „die Elite unter den Obdachlosen“. Die postmodernen Lemuren fühlen sich auf eine schwer verständliche Art frei: niemand traut sich in ihre Nähe, außer alle paar Wochen ein Rudel Polizisten, die mit Handschuhen und Gesichtsmasken aus Angst vor Tuberkelbazillen in den düsteren und feuchten Tunneln umherstolpern. Sie fühlen sich frei – weil sie nicht gesehen werden. Und weil sie „die da oben“ nicht sehen. „Ich habe mit dem Leben auf der Straße abgeschlossen“, sagt einer. Und er trotzt dem Abtauchen in die Keller noch etwas Positives ab: „Wir müssen uns nicht mit dem ganzen Ausmaß an Verzweiflung auseinandersetzen, das in der oberirdischen Welt existiert.“ Den Kontakt zu denen da oben haben sie aufs Geld reduziert. Ihre Höhlen verlassen sie nur, um sich zu prostituieren, Drogen zu beschaffen, Pfandflaschen zu versetzen.
Tatsächlich fristen die Frauen und Männer und Kinder in den Tunneln und Schächten ein Dasein wie lebendig begraben. Kein Wetter, kein Baum, kein Meer, keine Zeitung. Nur das höllische Kreischen der U-Bahn, wenn die sich in die Kurve legt oder abbremst. Manchmal das Licht einer Taschenlampe, wenn Gleisarbeiter die Schienen ausbessern. Die haben die Obdachlosen in den Tunneln Chud getauft, Cannibalistic Human Underground Dwellers, kannibalistische menschliche Untergrundbewohner. Weil sie eine tierische Angst davor haben, plötzlich auf die Verwahrlosten zu stoßen. Einer soll, im Crack-Rausch, den Polizisten einer Tunnelpatrouille erschlagen haben. Das offizielle New York City dagegen hat die Drogensüchtigen, Aidskranken, Mörder, Gestrauchelten, Ausgestoßenen unter dem Begriff „Maulwurfmenschen“ katalogisiert, „The Mole People“ heißt folglich der semi-dokumentarische Bericht von Jennifer Toth, Jahrgang 1967.
Unter dem Pflaster – noch eine Stadt
Zwei Jahre recherchierte Toth, wagte sich in die tiefsten Schlupfwinkel, führte Hunderte Gespräche mit den Maulwurffrauen und -männern. Und mit Polizisten. „Man muß es gesehen haben, um es zu glauben“, zitiert Toth einen U-Bahnpolizisten namens Romero. Aber es gibt die Maulwurfmenschen, und es werden immer mehr. Im gesetzesfreien Raum verwahrlosen sie dort unten, leben nach ihren eigenen Regeln. Von wegen unter dem Pflaster liegt der Strand: unter dem Pflaster existiert eine ganze Stadt.
Fast alle Tunnelmenschen haben gesellschaftliche Strukturen der „Überirdischen“ kopiert und in den U-Bahn-Röhren kleine Gemeinden etabliert. Arbeitslose Krankenschwestern versorgen Wunden, cracksüchtige Lehrerinnen bringen den Kindern das ABC bei, so genannte „Bürgermeister“ achten darauf, daß keine Drogen konsumiert werden. Es gibt Gemeinden, die aus Familien bestehen, aus Jugendlichen, die von zu Hause abgehauen sind, und aus Homosexuellen.
In der menschenfeindlichen Umgebung füllen die Abgetauchten die Zeit bis zum Tod mit alltäglichen Verrichtungen. Manche haben ihre Verschläge ein bißchen tapeziert, waschen ihre drei Klamotten mit Feuerlöschwasser und zapfen poröse Elektrokabel an, um eine Glühbirne zum Glimmen zu bringen. Wer sich einmal von denen da oben verabschiedet hat, findet aus dem Tunnel kaum mehr heraus. Viele sterben darin. Bei Schießereien, wegen Aids oder einfach nur, weil sie über die Stromabnehmer der U-Bahn gestolpert sind.
Endgültiger Abschied von denen oben
Vor dem Tod fürchtet sich ohnehin keiner. „Die Tunnel rauben einem das Leben“, sagt einer. Und Bernard, der selbsternannte „Herr der Tunnel“, hat herausgefunden: „Hier unten wird der Mensch zum Tier. Hier unten kommt das Tier im Menschen zum Vorschein. Sein erster Instinkt heißt: überleben.“
Jennifer Toth ist eine mutige Frau. Manchmal wartete sie bis zu zwei Stunden zwischen Ratten und Kellerasseln auf einen Gesprächspartner. Die Stadt mußte sie nach Veröffentlichung von „The Mole People“ wegen Morddrohungen verlassen. Ihr Buch ist in New York City zur Zeit ein Bestseller, und Toth plagen noch heute Alpträume. Monatelang kletterte die Journalistin, eine Tochter aus gutem Hause, in den Untergrund hinab. Mit der Zeit verlor sie ihre Angst vor der Finsternis und vor durchgeknallten Tunnelmenschen. Sie hat ihnen zugehört, sie reden lassen, und im Umgang mit den Obdachlosen gelernt, „daß es eine einzige Wahrheit über sie nicht gibt“.
Jennifer Toth liefert einen Schreckensbericht mit unerwarteten Einblicken. Bernard, früher Fotomodell erklärt – auch zu Toths eigener Überraschung: „Und Frieden gibt es hier in der Dunkelheit. Ich sitze hier nachts mit einem Topf Tee am Feuer, und um mich ist lediglich die Einsamkeit des Tunnels. Ich habe hier unten entdeckt, daß das, was man wirklich im Leben sucht, Seelenfrieden ist.“
Und Brenda, 24, klammert sich mit einer poetischen Version vom Tunnel-Leben an die Hoffnung: „Ich liebe die Einsamkeit der Tunnel. Sie dringt in die Ohren und in die Haut und tröstet mich. Es ist wie eine Umarmung, bei der dich nichts festhält. Es ist Verständigung.“
Jennifer Toth: „Tunnel-Menschen. Das Leben unter New York City“. Aus dem Amerikanischen von Sylvia Klötzer, mit Fotos von Margaret Morton, Chr. Links Verlag, Berlin 1994, 264 Seiten, 48 DM
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