: Das größte Opfer müssen die Opfer bringen
■ Der SPD-Politiker Egon Bahr sieht die strafrechtliche Aufarbeitung des DDR-Unrechts als gescheitert an und plädiert für ein Schlußgesetz, das am 3.10.1995 in Kraft treten soll
taz: Herr Bahr, Sie haben der Justiz vorgeworfen mit den Verfahren gegen Wolf, Schalck-Golodkowski und Vogel Ersatzbefriedigung zu betreiben. Welche niederen Gelüste werden dort ausgelebt?
Egon Bahr: Nachdem die Justiz festgestellt hat, daß nicht ein einziges Mitglied des Politibüros wegen seines Verhaltens zu DDR-Zeiten verurteilt werden konnte, bleibt ihr nichts anderes, als sich auf die nächstgelegene Ebene der Machthierarchie zu stürzen. Gerade dort sieht man nun, wie fragwürdig das Ganze ist. Der Justiz ist daraus kein Vorwurf zu machen, denn sie ist nicht dazu da, Geschichte aufzuarbeiten.
Wem ist dann ein Vorwurf zu machen?
Wir haben schon 1990 versäumt, uns klar zu werden, daß wir einen Schlußstrich ziehen müssen. Mit großzügiger Klugheit ist man in Spanien fähig gewesen, mit der Vergangenheit einer vierzigjährigen Franco-Diktatur fertig zu werden. Das war auch kein Zuckerschlecken. Und ich denke daran, daß die Länder östlich von uns den Luxus sich gar nicht leisten konnten, den wir uns leisten: dostojewskihaft in unseren Innereien zu wühlen. Warum sollen es sich die Deutschen schwerer machen als die Tschechen, die Russen oder die Polen?
Weil dieser Luxus die Möglichkeit eröffnet, sich intensiver mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen?
Ich bin auch nicht dafür, die Vergangenheit unter den Teppich zu kehren. Denn es ist sehr viel aufzuarbeiten. Doch dazu ist die Justiz nicht in der Lage. Rückblickend auf die letzten vier Jahre müssen wir feststellen, daß es nicht geht. Ich muß als Staat doch in der Lage sein, einen erkannten Fehler selbst zu korrigieren. Wir können doch nicht einfach weitermachen. Bis wann denn?
Die Arbeitsgruppe Regierungskriminalität der Berliner Staatsanwaltschaft hat noch 1.600 Verfahren zu bearbeiten, davon 1.250 wegen Gewalttaten an der innerdeutschen Grenze. Zudem stehen noch 7.400 Verfahren wegen Rechtsbeugung und Gefangenenmißbrauch aus.
Na dann viel Spaß.
Sind das Gründe, einen Schlußstrich zu ziehen, dahinter verbergen sich individuelle Schicksale?
Wo man die Grenze zieht, ab der man Delikte weiterverfolgt oder ab der Ermittlungen eingestellt werden, soll der Bundestag entscheiden. Ich bin nicht dafür, pauschal einzustellen. Mord ist zum Beispiel nicht verjährungsfähig, man wird ihn weiter ahnden.
Bislang wurde in Verfahren wegen DDR-Unrecht noch kein Urteil wegen Mordes gesprochen.
Ist das nicht ein Alarmsignal, wenn wir feststellen, daß nicht ein einziger Fall von Mord vor Gericht steht?
Ihr Vorschlag bedeutet, daß sämtliche Unrechtstaten straffrei bleiben.
Das muß das Parlament entscheiden, aber ein Schlußakt scheint mir unausweichlich.
Wann kommt er?
Ein solches Gesetz sollte am fünften Jahrestag der deutschen Einheit, am 3. Oktober 1995, in Kraft treten.
Soll auch die Stasi-Überprüfung bei Beschäftigten des öffentlichen Dienstes eingestellt werden?
Ich bin der gleichen Auffassung, die der Bundeskanzler vor der Enquetekommission formuliert hat.
Man solle die Akten ein für allemal schließen.
Richtig. Aber es ist nicht mehr möglich. Das Gesetz ist zustande gekommen, nachdem Ostdeutsche darauf gedrängt haben. Nachdem das gelaufen ist, kann man nicht auf halber Strecke sagen, nun ist Schluß. Es muß weiterlaufen, allerdings mit der Einschränkung, daß sich daraus keine juristischen Folgen ergeben. Es gab eine Reihe von Leuten, die über ihre Stasi- Vergangenheit gelogen haben, um im öffentlichen Dienst weiterbeschäftigt zu werden. Wenn man ihnen das nachweist, soll man sie rausschmeißen.
Die Stasi-Überprüfung soll also weitergeführt werden?
Ja selbstverständlich. Dann muß man individuell prüfen, ob derjenige sich in einer Weise vergangen hat, die unakzeptabel ist. Ich würde da allerdings großzügig sein. Denn es gibt Verstrickungen, in denen Leute abgeschöpft wurden oder glaubten, nicht anders zu können.
In Ihre Sicht der Dinge würde auch die PDS einstimmen.
Mich interessiert in diesem Zusammenhang die PDS als Partei überhaupt nicht. Mich interessiert die Frage, können wir es uns ein bißchen leichter machen, zur inneren Einheit zu kommen. Da komme ich zu dem Schluß: Es ist für dieses Volk besser, einen solchen Weg zu gehen. Das bedeutet keine Umbewertung des Unrechts.
Diejenigen, die unter diesem Unrecht gelitten haben, die Vertreter der Bürgerbewegung, lehnen einen solchen Schlußstrich ab.
Das kann ich verstehen. Aber die wirklichen Bürgerrechtler sind im wesentlichen diejenigen, die die Einheit nicht wollten, sondern die DDR reformieren wollten, und die eine Minderheit waren. In einer Demokratie entscheidet jedoch die Mehrheit. Ich bin mir bewußt, daß man von den Opfern das größte Opfer verlangt. Ja was denn sonst? Interview: Dieter Rulff
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