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Nonfolklore aus Antiidylle

■ Signal und kulturelle Pionierleistung: Ein Festival für Neue Musik in Albanien

Im Anflug, nachdem sich das handtuchflache Land gefältelt und zum Gebirge aufgeworfen hat, tritt aus dem grünen Streifen Land ein grauer Fleck hervor. Nach holprichter Landung auf verkanteter Piste, nach der Abfertigung auf dem Staatsflughafen im Westentaschenformat zieht eine lange ungefaßte Straße der Capitale entgegen: Tirana, Hauptstadt des Landes, das fünf Jahre nach der Öffnung seiner Grenzen immer noch kaum ein Mitteleuropäer kennt. Aber Festivals gibt es auch hier, sogar solche für Neue Musik.

Wie aus dem Musterbuch kommunistischer Architektur führen breite Prachtboulevards sternförmig auf einen monumentalen Platz im Zentrum zu, in dessen Mitte einstmals die titanenhafte Büste des KP-Sekretärs und Alleinherrschers Enver Hoxha thronte und auf die rings erbauten Monumentalbauten blickte, bis das unwillig gewordene Volk den ungeliebten Kopf wegrollte. Tirana ist eine junge Stadt, in den 20er und 30er Jahren aus dem Boden gezogen, als Ensemble gebaut. Funktionalbauten im Einheitsplattenstil und mediterran anmutende italienische Wohnblocks kontrastieren die eingestreuten Inseln von durch Mauern verborgenen Stadtvillen und das schon orientalische Durcheinander der Märkte.

Doch die ganze Stadt ist Ruine, ist seit ihrer Erbauung in steter Nutzung zerschlissen, zerbrochen, zerrieben. Schlaglöcher von Badewannengröße perforieren die Fahrwege, Müll quillt aus den Kanalschächten. Die Marmorsäulen der von den Sowjets gebauten Oper werden durch Stahlklammern zusammengehalten, ihre riesigen Fensterscheiben sind von riesigen Rissen durchzogen. Alles Material wird genutzt, bis es bricht.

Das tägliche Leben richtet sich nach dem Diktat des Mangels: Wasser gibt es dreimal täglich für eine Stunde, Strom öfter, aber manchmal auch tagelang nicht. Was die Stadt definitiv zur Anti- Idylle macht, wird durch gerontische Industrie und verschlissene Motoren mit einem optimalen Diesel-zu-Ruß-Wirkungsgrad verursacht: eine Dunst- und Rauch- und Staubwolke, die sich wie Sandpapier durch die Bronchien schmirgelt – die Albaner halten mit einem Zigarettenkonsum dagegen, von dem man am besten durch frühe amerikanische Pokerfilme einen Eindruck gewinnt.

Nach mehreren grausamen Wintern – Schlagzeilen machte vor wenigen Jahren die Elendsflucht auf überfüllten Frachtern nach Italien mit der harschen Zurückweisung und die Berichte von Verzweiflungsvandalismus, bei dem die von der Not zermürbten Bürger ihre eigenen Wohnungen zerschlugen – besserte sich die Lebenssituation im letzten Jahr. Jetzt herrscht in den Straßen Aufbruchstimmung, ein jeder versucht, mit Geschick und Phantasie sein Glück zu machen, Straßencafés schießen wie Pilze aus dem Boden, fliegende Händler preisen allerorten ihre Waren an. Der Verkehr regelt sich in erster Linie durch rhythmisch anspruchsvolle Hupsignale, die oft auch ohne Zweck, als reine Daseinsäußerung eingesetzt werden. Das Gewirr aus Rufen, angeregten Unterhaltungen und lärmiger Betriebsamkeit ist Zeichen einer Lebenslust, die sich trotz allem materiellen Mangel in der Lautäußerung ihren Weg bahnt.

In dieser Umgebung fand nun ein Festival statt, mit dem sich das Land nach Jahrzehnten der erzwungenen Isolation mit einem ungewöhnlichen Signal auch kulturell in den Kreis Europas zurückmeldet: mit Neuer Musik. Die albanische Landessektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik veranstaltete vom 2. bis 7. November ein Festival mit zeitgenössischer Kammermusik aus fünf Ländern.

Das von dem albanischen Komponisten Sokol Schupo initiierte Unternehmen ist in mehrfacher Hinsicht eine Pionierleistung. Zum einen war zu Zeiten der kommunistischen Herrschaft alle Musik nach Wagner, inklusive Wagner, verpönt und alle Musik nach Debussy verboten. Manch avancierter Geist zahlte seine Fortschrittssehnsucht mit mehrjährigen Haftstrafen. In dieser Hinsicht ist das Festival, das nun erstmals Neue Musik auf die Bühne brachte, ein Akt der Befreiung. Zum anderen herrscht in Albanien ein enormes Informationsdefizit. Alle Distributionsformen von Musik sind rar: CDs sind unerschwinglich, Noten gleichfalls, Fachzeitschriften und Bücher sind in den Hochschulen kaum vorhanden, Fotokopien teuer, Kassetten und Rekorder ebenfalls. Hier brachten die Gäste aus dem Ausland sehnlich erwartete Neuigkeiten. Zum dritten fanden viele Komponisten, insbesondere der jüngsten Generation, erstmals überhaupt ein Forum.

Fünf Länder stellten sich mit einem Vortrag zur Situation der Gegenwartsmusik, einem Komponistenportrait und einem Konzert vor. Eröffnet wurde der Reigen mit einem deutschen Tag. Der Essener Komponist Gerhard Stäbler reagierte geistesgegenwärtig auf die von der nahen Straße in den Vortragssaal herüberwehende Klangwolke, indem er, zusammen mit dem Publikum, den ersten Satz von John Cages 4'33'' (jenes Stück, bei dem nicht gespielt, sondern nur gehorcht wird) aufführte. Anhand dieses akustischen Fingerzeigs erläuterte er dann sein Konzept einer lokalen Musik, wonach ein Komponist sich auf seine jeweilige Umgebung und gesellschaftliche Situation beziehen sollte, statt kompositorische Verfahren zu adaptieren, die in anderen kulturellen Zusammenhängen entstanden sind.

Im abendlichen Konzert gab dann der albanische Cellist Pjeter Guralumi eine Kostprobe seiner erstaunlichen Einfühlungsgabe, die unabdingbar ist, um Bernd Alois Zimmermanns „Intercommunicazione“ zu realisieren, ohne auf eine entsprechende Interpretationstradition zurückgreifen zu können. Wer hätte ihm die Spieltechniken, die das Maß der traditionellen Techniken bei weitem übersteigen, beibringen können? Er gab mit seiner aus Musikalität und Einsicht geschöpften Interpretation zugleich einen Beleg gegen das Vorurteil, Neue Musik sei steril und ausgedacht – in Albanien ist man da weiter.

Die rumänische Delegation bestand aus dem Komponisten Anatol Vieru und dem Geiger Ian Marius LÛcraru, der zusammen mit der skipetarischen Pianistin Nor Çashku ein Programm bestritt, das dem erstaunten Publikum erstmals Spieltechniken im Inneren des Pianos präsentierte. Diese in Mitteleuropa gewöhnlich gewordenen Klänge haben hier, quasi in „statu nascendi“, noch einmal alle Kraft und Neuigkeit, um derentwillen sie einstmals erfunden wurden. Nachdem auch die Schweiz und Österreich sich vorgestellt hatten, fieberten alle Ohren dem Abschlußkonzert mit Werken albanischer Komponisten entgegen.

Das kompositorische Niveau war insgesamt hoch, doch vermochte es erst die jüngste Generation, sich von dem Einfluß Debussys, Bartoks oder der folkloristischen Tradition zu befreien. Um nur zwei Beispiele für kompositorische Eigenständigkeit zu nennen: Edrin Sina ist in seinem Stück „Erstarrung“ für Trompete, Kontrabaß und Elektronik eine Synthese gelungen, in der Blasgeräusche und reduzierte melodische Wendungen ein so spannungsvolles Wechselspiel eingehen, daß sie dem Titel Hohn zu sprechen scheinen. Die junge Komponistin Eriona Rushiti erzeugte die Kraftlinien ihres „Klarinettenquintetts“ aus subtiler dynamischer Feinarbeit. Die behutsam entwickelten Ensembleklänge wirkten mit solistisch konzipierten Passagen unter der klugen formalen Disposition zu einem kompakten Organismus zusammen.

Eines der schönsten Ergebnisse dieses ersten Festivals Neuer Musik war, daß ein hohes qualitatives Niveau auch unter enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten möglich ist; einfach, weil die Menschen neugierig sind, weil sie ihre Sinne schärfen wollen oder auf der Suche nach einem Ausdruck für ihre Zeit und ihre Lebensumstände sind. Völker hört die Signale! Frank Hilberg

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