: Explodierende Energien
■ Viertes Philharmonisches Konzert mit selten gespielter Musik
Daß auch die Mitglieder des Philharmonischen Staatsorchesters Bremen wieder auf den Stuhlkanten sitzen können, bewiesen sie im vierten, gut besuchten Orchesterkonzert in der Glocke: der Russe Arnold Katz, Gründer und Chefdirigent des Symphonieorchesters Nowosibirsk, entfachte bei seinem Bremer Debut mit Werken von Ludwig van Beethoven und Serge Prokfieff vielleicht nicht immer Genauigkeit, aber Glut, Dramatik und Intensität. Selten gespielte Repertoirewerke wurden angeboten: Beethovens 1808 entstandene „Fantasie für Klavier, Chor und Orchester“ op. 80. Sie wird im Nachhinein als Vorstudie für die große neunte d-Moll-Sinfonie (1824) angesehen. In der Fantasie zeigen sich die ersten Anfänge von Beethovens lebenslanger Idee einer Verwendung des Chors in der instrumentalen Sinfonie, noch dazu gekoppelt mit einem Solokonzert - das Ziel war Steigerung des Ausdrucks.
Die kompositorische Qualität aus der heutigen Perspektive ist kantig und brüchig, aber mit Blick auf die „Neunte“ gerade deswegen hochinteressant: die nahezu isolierte Klavierfantasie, die bei der Uraufführung 1808 wohl tatsächlich improvisiert wurde, der Funktionswechsel des Klaviers in ein wild solistisches Perkussionsinstrument, der regelrecht brav klingende Chor mit heraustretenden SolistInnen: idyllisch lieb wird hier das schon 1794 komponierte Strophenlied „Gegenliebe“ verwendet.
Arnold Katz hatte das alles gut und exakt, gelegentlich etwas breitgetreten, im Griff, diel Sing-Akademie war unter der Leitung von Theo Wiedebusch respektabel vorbereitet, und der Pianist Mark Zeltser meisterte virtuos und mit explosiver Spannung den technisch schwierigen Klavierpart: gelegentlich zu hektisch mit deutlichem Konturenverlust.
Zum Höhepunkt des Abends wurde allerdings die Wiedergabe der 1928 entstandenen dritten Sinfonie von Serge Prokofieff. Erst seit einigen Jahren wird ja die Geschichte der sowjetischen Maulkörbe an Künstler nach und nach in ihrer verheerenden Wirkung auf die Kunst untersucht. Stalins berühmtes Verdikt über Dimitri Schostakowitschs frühe geniale Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ – „Das ist Chaos, keine Musik“ (1934) – kam unmittelbar beim Hören der Prokofieff-Sinfonie in den Sinn, auch wenn diese Sinfonie im Exil in Paris geschrieben wurde (der Komponist kehrte allerdings 1932 in die Sowjetunion zurück). Die Musik explodiert nur so vor experimentellen und dynamischen Energien: daß die Lautstärke bis an die Schmerzgrenze sich als inhaltliche Kategorie vermittelte, ist einmal der überlegenen Disposition von Katz zu verdanken, dann aber auch den MusikerInnen, die dabei waren wie selten.
Ute Schalz-Laurenze
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