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Zu Hause ist's am gemütlichsten

■ Oslo und Umgebung stimmten für die EU, aber je höher man in den Norden kommt, desto hitziger die Stimmung gegen Brüssel. Insgesamt wird die EU-Ablehnung den NorwegerInnen kaum schaden - solange da noch ...

Oslo und Umgebung stimmten für die EU, aber je höher man in den Norden kommt, desto hitziger die Stimmung gegen Brüssel. Insgesamt wird die EU-Ablehnung den NorwegerInnen kaum schaden – solange da noch Erdöl ist.

Zu Hause ist's am gemütlichsten

Ole Klaudiussen ist fest entschlossen: „Jetzt holen wir die Umzugspläne aus der Schublade.“ Klaudiussen leitet einen Fischverarbeitungsbetrieb mit 50 Angestellten im Eismeerhafen Vardö, 2.000 Kilometer von Oslo entfernt. „Wir können hier nicht überleben.“ Das Mehrheits-Nein der NorwegerInnen zieht plötzlich eine Zollmauer an den bislang offenen Grenzen zu den Efta-Nachbarländern Schweden und Finnland hoch. „5,5 Prozent Zoll beim Lachs und 20 Prozent bei den Krabben, da können wir dicht machen.“ Ole Klaudiussen und seine Branche könnten tatsächlich zu den ersten Leidtragenden des 52,6prozentigen Nein aus dem hohen Norden werden. Aber sie stehen ziemlich allein da. Selbst in Vardö war das Nein auf 80 Prozent angeschwollen.

Spinnen die NorwegerInnen? Warum entziehen sie sich freiwillig der Brüsseler Kuschelwärme?

„Ist es da nicht besser, gleich Asterix zu sein“, glaubte Daniel Cohn-Bendit noch am Samstag vor dem Referendum in einem Interview mit der Wirtschaftszeitung Dagens Naeringsliv fragen zu müssen, „Norwegen außerhalb der EU ist ja wie Sozialismus in einem einzigen Land. Das ist Stalin.“ NorwegerInnen haben es besonders gern, wenn gerade Deutsche Berührungspunkte zwischen ihnen und dem zeitweiligen Waffenbruder Hitlers – dem Besetzer und Zerstörer ihres Landes – herstellen. Aber das Asterix-Bild könnte ihnen durchaus gefallen: Sie glauben tatsächlich, allein die Stärksten zu sein und in einem EU-„Rom“ zu verschwinden. Mit nahezu gleicher Mehrheit wie vor 22 Jahren wurde auch beim zweiten Anlauf ein EU- Beitritt abgelehnt.

Erstaunlich wenig hat sich geändert seit der letzten Abstimmung. Nicht nur die Argumente waren weitgehend austauschbar, auch die Allianzen von Ja- und Neinsagern rekrutierten ihre Anhängerschaft aus den gleichen Lagern. Die Stadt Oslo und die Hauptstadtregion sagten wieder Ja, eine Koalition aus links, grün, bäuerlich, religiös und national sammelte die Nein- Mehrheit im dünn besiedelten Rest des Landes, bei den Frauen, den Fischern, den Staatsangestellten. Die einen fürchteten ganz konkret um ihre Arbeitsplätze, andere erblickten in der EU das Untier aus der Offenbarung und den Antichrist, die dritten wollten ihre Selbständigkeit nicht an einen undemokratischen, anonymen Unions-Koloß verlieren.

Überhaupt der Unions-Begriff – in Norwegen diskreditiert wie kein anderes politisches Schlagwort. Norwegen ist ein altes Land, aber ein junger Staat. In der Vergangenheit in unfreiwilliger Union mit Dänemark oder Schweden oder von einem Nazideutschland besetzt. Den „Herrenmenschen“ aus Brüssel habe man es gezeigt, lautete in der Wahlnacht ein mehrfach gehörter Kommentar auf Oslos Straßen.

Gemeint waren in Gedanken aber auch die „Herrenmenschen“ aus Stockholm, Kopenhagen, Berlin oder Oslo selbst. Zwei breite Strömungen flossen auf der Nein- Seite zusammen, von den SoziologInnen für längst obsolet erklärte Klassengrenzen brachen wieder auf. Auf der einen Seite die kulturell und geschichtlich bedingte Skepsis gegen jede Zentralmacht, mit der man vorwiegend immer negative Erfahrungen gemacht hatte. Auf der anderen Seite eine antikapitalistische Tradition mit Wurzeln in der alten Arbeiterbewegung, die nicht nur im Norden besonders stark war – wo in vielen Wahlkreisen die Nein-Mehrheiten über 80 Prozent lagen. Auch in der modernen Gewerkschaftsbewegung überwog das Nein.

Bernt Olav Aardal, Professor am norwegischen Sozialforschungsinstitut und Wahlforscher, in einer ersten Analyse: „Die meisten, wenn nicht alle Schlüsselargumente in der EU-Debatte waren mit Konflikten verknüpft, die in der norwegischen Politik der beiden letzten Jahrhunderte eine wichtige Rollen gespielt haben. Das hat die Debatte so polarisiert und gefühlsmäßig aufgeladen.“ Sollte jemand meinen, daß Geschichte keine bleibenden Spuren hinterläßt – Norwegen beweist das Gegenteil.

Einerseits ist Norwegen ein „normales“ europäisches Land, welches das Glück hatte, vor seiner Küste ein großes Erdöllager schlummern zu haben. Andererseits aber, so der Osloer Professor Bernt Hagtvet, „waren wir in unserem Verhältnis zur Umwelt historisch gesehen entweder Missionare oder Handelsleute. Als Volk haben wir kein engeres Verhältnis zu Europa, wir haben an den Kais angelegt, unsere Ladung gelöscht und sind ganz schnell wieder verschwunden.“

Die Nein-Bewegung konnte nicht nur auf tief verwurzelte historische Gefühle und Erfahrungen setzen, sondern auch auf nicht wegzuwischende Wirtschaftsdaten. Die Ölwirtschaft hat starke Ausstrahlungen auf die norwegische Festlandwirtschaft. Das Lohnniveau ist so hoch, daß Landwirtschaft und Fischerei und selbst viele Industriezweige nur dank des reichlich fließenden staatlichen Subventionstropfs national und international überlebt haben. Die Budgetkasse in Oslo ist durch die Ölgelder meist reich gefüllt, Norwegen kann sich eine Regionalpolitik und ein Wohlfahrtssystem leisten, von denen Dänemark, Schweden und Finnland nur noch träumen können.

Und Brüssel drohte nicht nur die Subventionstöpfe zu verschließen – die Bedrohung war doppelt: Neben der Wohlfahrt selbst drohten auch viele der „Wohlfahrtsarbeitsplätze“ ein EU-Opfer zu werden. Gerade hier sind viele Frauen beschäftigt.

Das hauptsächliche Ja-Argument lautete: Norwegen, das zu 80 Prozent mit der EU Handel treibe, könne sich ein Draußenbleiben ökonomisch nicht leisten. Aber es hat an Überzeugungskraft verloren, weil es schon 1972 Hauptschlagwort war: Man ist ja seither auch ohne Probleme klargekommen. Die Arbeitslosigkeit liegt mit 5,3 Prozent niedriger als in den meisten EU-Ländern, die Inflation beläuft sich mit 1,8 Prozent auf weniger als den EU-Durchschnitt von drei Prozent, und hinter Saudi- Arabien ist man mittlerweile weltweit größter Ölexporteur – Öl und Gas stehen für 45 Prozent des Gesamtexports Norwegens.

Trotz des Mehrheits-Neins will die EU selbstverständlich weiterhin möglichst freien Handel mit Norwegen treiben, im Rahmen des „Europäischen Wirtschaftsraums“ (EWR) oder über eine andere Freihandelsschiene. Und auch für Ole Klaudiussen und die restliche Fischbranche könnte man schnell Freihandelsregelungen finden, denn Oslo hat eine Trumpfkarte, die sticht: Die Europäische Union will auch weiterhin ihre Fischquoten in norwegischen Gewässern haben. Norwegens Wirtschaft wird daher insgesamt mit dem EU-Nein gut weiterleben können. Was erklärt, daß sogar – im Gegensatz zu Finnland und Schweden – führende Industriebosse wenn nicht gar offen ein Nein, so doch jedenfalls kein Ja propagiert hatten. Auch Stimmen aus den internationalen Finanzmärkten, wie die Chase Manhattan Bank und die britische Investitionsbank S.G. Warburg, empfahlen den NorwegerInnen ein klares Nein. Begründung des Chefökonomen Robin Marshall von der Chase Manhattan: „Die ökonomischen Vorteile einer Mitgliedschaft sind für ein reiches Land wie Norwegen alles andere als sicher. Auf jeden Fall bei weitem nicht so groß, daß sie für den Preis kompensieren würden, der vor allem durch den Verlust an Selbstbestimmungsrecht zu zahlen wäre.“

Was nicht heißt, daß diese Sondersituation für Norwegen immer so fortbestehen wird. Die Ölbrunnen werden in den nächsten zwanzig Jahren versiegen, neue Lagerstätten sind in den letzten Jahren nicht gefunden worden – allerdings bleibt das Erdgas. Das Subventionssystem, das beispielsweise den 100.000 Bauern und Bäuerinnen über 80 Prozent ihres Einkommens aus direkten Zuschüssen der Staatskasse sichert, ist schon jetzt gesamtwirtschaftlich gesehen ein Faß ohne Boden. Und erst kürzlich kritisierte der Rechnungshof mal wieder das Gießkannenprinzip, nach dem alles und jeder aus den über 750 Förderungsprogrammen, die mit 300 Milliarden Kronen (über 60 Milliarden Mark) jährlich gefüllt sind, Staatsknete bekommen kann.

„Norwegen ist ein Luxus an Europas Kante“, formulierte kürzlich Hans Magnus Enzensberger, „der durch den intravenösen Tropf der Ölindustrie am Leben gehalten wird, während ein Nebel aus Unwirklichkeit und Frühpensionierung übers Wasser schwebt.“ Asterix, Obelix und Co. stört dies nicht, solange der Zaubertrank Öl wirkt. Reinhard Wolff, Oslo

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