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Wohnungsprogramm für Obdachlose greift

■ Erstmals stagniert die Zahl der Obdachlosen / Zuzug aus dem Umland / Wohlfahrtsverbände geben keine Entwarnung

Die Zahl der von den Behörden erfaßten Obdachlosen stagniert erstmals bei rund 12.000. Diesen Trend führt Michael Haberkorn von der Senatsverwaltung für Soziales vor allem darauf zurück, daß das Wohnungsprogramm für Obdachlose greife. Jährlich 2.000 Wohnungen haben die Wohnungsbaugesellschaften den Bezirksämtern für Obdachlose oder von Obdachlosigkeit Bedrohte zugesagt.

Seit das Programm mit dem sperrigen Titel „geschütztes Marktsegment“ im vorigen November anlief, sind 1.560 Wohnungen bereitgestellt und 2.759 Menschen untergebracht worden. Dies ist fast ein Viertel der 12.000 Obdachlosen in Berlin, die Sozialhilfe beziehen. Insgesamt schätzt die Senatsverwaltung für Soziales die Zahl der Obdachlosen und von Obdachlosigkeit bedrohten Personen auf 22.000.

Die Wohlfahrtsverbände gehen allerdings von der doppelten Anzahl aus. Aus ihrer Sicht läßt sich keine Stagnation feststellen. „Allein in einer unserer Beratungsstellen haben wir 800 bis 900 Erstkontakte pro Jahr“, stellt der Obdachlosenreferent des Diakonischen Werks, Hermann Pfahler, fest. Die Hälfte der Leute sei weniger als ein Jahr obdachlos. So viele Neuzugänge seien „alarmierend“.

„Die stagnierenden Zahlen müssen sich nicht als Rückgang bei der Beratung niederschlagen“, versucht hingegen Haberkorn die unterschiedliche Wahrnehmung auf einen Nenner zu bringen.

Überraschend ist die nach wie vor geringe Zahl der obdachlosen Ostberliner, die den Sozialämtern bekannt sind: 800 waren es im zweiten Quartal des Jahres – gegenüber 10.241 Westberlinern. Offenbar funktionieren die internen Verwaltungsstrukturen besser als in den Westbezirken. Nach Angaben von Haberkorn sind es vor allem die engen Kontakte zwischen MitarbeiterInnen von Bezirksämtern und Wohnungsbaugesellschaften, mit denen Räumungen häufig abgewendet werden können.

Von einer „Stagnation auf hohem Niveau“ spricht auch die Kreuzberger Sozialstadträtin Ingeborg Junge-Reyer (SPD). Die Ursachen haben sich in Kreuzberg jedoch verändert. Dem Bezirk ist es gelungen, durch die Übernahme von Mietschulden weitgehend zu verhindern, daß Menschen ihre Wohnung verlieren. „Obdachlosigkeit entsteht jetzt überwiegend durch den Zuzug in ungesicherte Wohnverhältnisse“, so Junge- Reyer. Meist seien es „Chancenlose aus dem Umland“, die zunächst bei Bekannten und Freunden unterkommen – junge Männer zwischen 20 und 30 Jahren, die hoffen, in der Großstadt einen Job zu finden. Ihre ungesicherten Mietverhältnisse münden jedoch häufig in Obdachlosigkeit.

Bewährt habe sich in Kreuzberg, daß die Amtsgerichte dem Sozialamt mitteilen, wenn Räumungsanträge eingehen. Das Sozialamt bietet den Betroffenen dann Hilfe an. Zwar würden mehr Mietrückstände gemeldet, so Junge- Reyer, aber die Zahl der Räumungen nehme wegen der Intervention des Sozialamtes ab. Eine Million Mark gibt der Bezirk jährlich für die Übernahme von Mietrückständen aus. „Das lohnt sich“, stellt die Sozialstadträtin fest, denn „die Unterbringungskosten wären höher.“

Sorgen bereiten ihr vor allem diejenigen, die kein Hilfsangebot erreicht und die buchstäblich auf der Straße leben. Dies sind schätzungsweise in ganz Berlin zwischen 2.000 und 6.000 Personen. Meist sind es Suchtkranke, zunehmend auch psychisch Kranke, die nach der Entlassung aus der Psychiatrie nicht alleine zurechtkommen. Junge-Reyer setzt darauf, daß gerade sie, deren Gesundheitszustand am schlechtesten ist, vom Arztmobil erreicht werden können. „Da warte ich dringend drauf“, sagt sie.

Doch voraussichtlich wird es erst in der zweiten oder dritten Januarwoche im Einsatz sein. Der VW-Bus, den der Gesundheitssenator finanziert hat, wird umgebaut. Die Dauerfinanzierung zwischen der Caritas als Träger, der kassenärztlichen Vereinigung und den Senatsverwaltungen für Gesundheit und Soziales soll bis Mitte Dezember ausgehandelt sein. Neben einem Arzt werden auch eine Krankenschwester und ein Sozialarbeiter an Bord sein. „Wichtig ist, daß die Leute nicht nach der Behandlung an der nächsten Ecke abgesetzt werden“, sagt Sozialstadträtin Junge-Reyer. Es müsse statt dessen auf weitere Hilfsmöglichkeiten hingewiesen werden. Sie will erreichen, daß die MitarbeiterInnen des Arztmobils „kleine Beträge“ der Sozialhilfe auszahlen können und die Hilflosen an das für sie zuständige Sozialamt vermitteln. Dorothee Winden

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