■ Skandinaviens Beitrag für eine neue EU-Außenpolitik
: Das nordische Profil

Das EU-Territorium wird sich mit Abschluß der jetzigen Beitrittsrunde durch Schweden, Finnland und Österreich ab 1. Januar auf einen Schlag um ein Drittel vergrößern. Die EU hat sich fast 2.000 Kilometer nach Norden und Nordosten erweitert, was auch ohne Norwegen den Schwerpunkt des neuen Europas der 15 deutlich nach Norden verschiebt. Das finnische Ja hat der EU eine 1.200 Kilometer lange gemeinsame Grenze mit Rußland beschert. Die SchwedInnen sind mit ihrer Ostseegrenze zu den drei baltischen Staaten gefolgt. Aber bei der EU fehlt die Bereitschaft, aus diesen geographischen Tatsachen außenpolitische Schlußfolgerungen zu ziehen, und auch in den nordischen Beitrittsländern ist die Diskussion hierzu unterentwickelt.

Die neuen, außenpolitisch neutralen Beitrittsländer haben im Rahmen der Beitrittsverhandlungen ihre „Rechte und Pflichten“ akzeptiert. Sie wollen an der gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik „in vollem Umfang und aktiv“ teilnehmen. Hinter 99 Prozent der Stellungnahmen und Deklarationen der EU könnten sich sicherlich ohne Bauchschmerzen auch die neuen Mitgliedsländer stellen – weil sie so allgemein formuliert und nichtssagend sind. SkandinavierInnen neigen dazu, Worte ernst zu nehmen. Das hat nicht nur mit ihren ethisch-religiösen Haltungen zu tun, sondern resultiert auch aus ihrer Tradition, für politische Probleme erst einmal praktische Lösungen zu finden und diesen dann einen eindeutigen Begriff zu geben. In der EU herrscht vorwiegend die umgekehrte Vorgehensweise.

Die Maastricht-Vereinbarung zeigt im außen- und sicherheitpolitischen Abschnitt ein auffallendes Doppelgesicht. Einerseits das grundsätzlich formulierte und feierlich beschworene Prinzip solidarischer Verpflichtungen, andererseits eine breite Einfallspforte für die Voraussetzung zur Einhelligkeit, die in der Praxis einzelnen Ländern ein Vetorecht einräumt. Dieses Doppelgesicht hat die schwedische Regierung in einer Analyse der außenpolitischen Konsequenzen eines EU-Beitritts treffend auf den Punkt gebracht: „Niemand kann übersehen, daß eine Mitgliedschaft in der EU so weitgehende Verpflichtungen mit sich bringt, die wir nie vorher eingegangen sind oder dies auch nur erwogen haben. Andererseits soll aber auch niemand glauben, daß wir nun die Kontrolle über unsere eigene Außenpolitik aufgeben.“

Was heißt das für eine EU-Außenpolitik im Ostseeraum und gegenüber Rußland? Außenpolitik bedeutete für die EU bislang, auf bereits entstandene Probleme zu reagieren. Die skandinavischen Länder bringen demgegenüber eine ganz neue politische Tradition mit nach Brüssel. Feindbilder innerhalb Nordeuropas sind seit langem verschwunden, und Entspannung wurde hier praktiziert, als sie woanders in Europa nur ein frommer Wunsch war. Eine friedenspolitische Perspektive, die von Nordeuropa auch aktiv nach außen zu tragen versucht wurde. Nicht umsonst haben sowohl die neutralen Länder Schweden und Finnland als auch die Nato-Mitgliedsländer Dänemark und Norwegen zu verschiedenen Perioden eine große Rolle als Makler und Initiatoren für Friedenslösungen in schweren internationalen Krisen und Konflikten gespielt.

Will man Optimist sein, könnte man eine EU-Perspektive heraufziehen sehen, die dem ähnelt, was Nordeuropa seit Jahrzehnten praktiziert hat. Die Sicherheit eines Landes oder eine Allianz würde nicht mehr im Gegenpol zu einem anderen Land, einer anderen Allianz, definiert. Sicherheitspolitik handelte dann vom Umgang mit einem gemeinsamen Problem. Sie gewönne ihre Stärke aus wachsendem Zusammenspiel. Das „nordische Profil“ in der Unionsaußenpolitik könnte gerade die europäische Zusammenarbeit über die jetzigen Ostgrenzen der Union hinaus entscheidend prägen.

Was Rußland angeht, so hat zumindest der größte Teil der politischen Führungsschicht in Moskau kein Problem mit der Norderweiterung der EU. Eher wurde diese begrüßt, da man sich einen stärkeren finanziellen Einsatz zur Lösung von ökonomischen und ökologischen Problemen verspricht. Über die direkt betroffenen nordischen Länder wird die EU allerdings auch mit den Grenzproblemen konfrontiert werden, die die neue Ostgrenze der EU in bezug auf Handel, Flüchtlingspolitik, Kriminalität mit sich bringt. Das gleiche gilt für die Wiedereinrichtung alter Handelsbeziehungen über die Ostsee, nach St. Petersburg und nach Nordwestrußland. Ebenso für den Umgang mit Umweltkatastrophen, die die Bevölkerung im Norden nicht als fernes Problem, sondern als Alltag direkt vor der Haustür erlebt.

Die politischen und ökonomischen Beziehungen der baltischen Staaten zum Westen laufen schon jetzt zum größten Teil vermittelt über Koordinationsnetze in den nordischen Ländern. Auch im Baltikum wird die größere EU als Chance und Hoffnung gesehen, nicht zuletzt, weil die EU zumindest eine Fortsetzung des jetzigen Freihandels mit Skandinavien akzeptiert hat. Ein starker Einfluß der nordischen Außenpolitik in der Union in bezug auf Rußland und das Baltikum könnte zu einer Fortdauer der relativ entspannten Situation beitragen und den Weg zu einer fortgesetzten Integration öffnen.

Doch ist man in Brüssel wirklich darauf vorbereitet, den Neulingen auf Anhieb ein solches politisches Gewicht einzuräumen? Und ist Skandinavien auf eine solche Rolle vorbereitet? Die Außen- und Verteidigungspolitik hat bei der Frage der Norderweiterung der Union eine auffallend zweitrangige Rolle gespielt. Zum einen sicherlich, um keinen „unnötigen“ Widerstand der an Neutralität und Allianzfreiheit gewöhnten Bevölkerung zu wecken. Zum anderen aber auch, weil tatsächlich ein Konzept fehlt? Eine Organisationseinheit, die sich innerhalb der EU einigermaßen kontinuierlich mit außen- und sicherheitspolitischen Fragen befaßt, fehlt bislang. Was geschieht, oder eben nicht, hängt wesentlich von den Zufälligkeiten des rotierenden Vorsitzlands im Ministerrat ab, von Impulsen aus den Mitgliedsländern und mit welcher Stärke diese über die EU-Kommission vermittelt werden können.

Der durchaus mehr global und Konflikten vorgreifend ausgerichtete Horizont gerade des neuen EU-Lands Schweden liefe Gefahr, an diesen mangelhaft ausgebauten EU-Strukturen zu zerfließen. Kein Wunder, daß gerade aus Schweden und Finnland nach dem ersten Beitrittsschritt gleich Signale nach einer handfesteren EU-Zusammenarbeit kamen: was die Nato oder ein neues Modell europäischer Sicherheitszusammenarbeit angeht. Die DänInnen sind zu Bremsern geworden, als sie merkten, wie ihre außen- und umweltpolitischen Ansätze an unbeweglichen und mehr mit sich selbst befaßten EU-Strukturen scheiterten. In den neuen Beitrittsländern gibt es eine große Bereitschaft, eine außen- und friedenspolitische Strategie zu formulieren, um auf Konflikte nicht erst zu reagieren, sondern diesen im Vorfeld zu begegnen. Was wird die EU damit anfangen? Reinhard Wolff