: Shakespeares Schwester lebt!
■ Hille Darjes spielt „Ein Zimmer für sich allein“ in der Böttcherstraße
Nebenan, am nächsten Baum, lehnt ein Mädchen, dunkel und sehnsuchtsvoll. Paula Becker-Modersohns „Mädchen im Birkenwald mit Katze“, 1904 gemalt, hängt im großen Saal des seit Februar wiedereröffneten Paula Becker-Modersohn Hauses in der Böttcherstraße. Hierher hat es nun die Schauspielerin Hille Darjes mit ihrem erfolgreichen Virginia Woolf- Programm „Ein Zimmer für sich allein“ verschlagen. Zufällig ist das Zusammentreffen der Bremer Malerin und der englischen Schriftstellerin keinesfalls: „Die beiden sind ja Generationsgenossinnen. Aber darüber hinaus denke ich mir heute, wenn Paula ein Zimmer für sich allein gehabt hätte, sie hätte sicher ein wesentlich angenehmeres Leben führen können.“ In „Ein Zimmer für sich allein“ notiert Viginia Woolf für das Jahr 1928 zwei bedeutsame Ereignisse: das allgemeine Wahlrecht für Frauen in England und eine persönliche Erbschaft von 500 Pfund jährlich. Die Autorin, die großes Interesse an Frauenfragen hatte, gibt freimütig zu, daß der Unfall einer Tante, die in Bombay vom Pferd fiel und dadurch ihre Nichte plötzlich in den Genuß eines festen Einkommens brachte, das entscheidendere historische Ereignis war.
Finanzielle Unabhängigkeit und von Kindern ungestörte Arbeitszeit das sind die Grundlagen eines freien Geistes, der sich erst dann zu den Höhen künstlerischer Geniestreiche emporschwingen kann. So analysierte Virginia Woolf in ihrem berühmten Aufsatz, der ursprünglich zu dem unverfänglich harmlosen Thema „Frauen und Literatur“ entstand. Mittlerweile ist der Woolfsche Text zu einem Grundsatzpapier der Frauenbewegung geworden, die 1928 gestellten Forderungen aber haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.
In dem überaus amüsanten Vortrag werden mit bissigem Ernst die richtigen Fragen gestellt: Warum schreiben Männer über Frauen und nicht umgekehrt? Wieso tauchen jahrhundertelang überhaupt keine Frauen als Autorinnen auf? Und woran liegt es, daß die Hälfte der Menschheit nicht am gesellschaftlichen Reichtum beteiligt ist?
Hille Darjes, die durch Übersetzung und Bearbeiteung eine Bühnenfassung erstellt hat, ist weit davon entfernt, es sich mit der inhaltlichen Zustimmung der Geschlechtsgenossinnen bequem zu machen. Zwei Stunden lang schlüpft die Mitbegründerin der Bremer Shakespeare Company in die Rolle der englischen Schriftstellerin und inszeniert einen Vortrag mit allen Finessen. Die Gesten, mit denen sie den intelligenten und gleichzeitig unterhaltsamen Text vermittelt, könnten aus dem Handbuch der Rhetorik stammen und sind sich doch dessen bewußt. So hält sie während der ganzen Zeit den Zuschauersaal in Atem und Bewegung, wenn bei dem komischen Vortagsredner-Gestenkanon aus Brille auf, Brille ab, gen Himmel weisendem Zeigefinger und erhobenen Augenbrauen die kleinen Freudengluckser im Saal zu immer wiederkehrenden Wellen des Gelächters anschwellen. Mit durchaus englischem Humor weiß Hille Darjes diese gelungene Mischung aus intellektueller Überreizung und spleenhafter Verschrobenheit, die Woolf mit ihrem Text anbietet, hinter dem blauen Vortragspult im Paula Becker-Modersohn Haus wiederzubeleben.
Und erst hier vor den Bildern der viel zu früh verstorbenen Malerin gewinnt Virginia Woolf Imagination eines weiteren Mitglieds im „Club der toten dichterInnen“ ihre Resonanz. Was, so fragt sie, wäre wohl das Schicksal einer jungen Frau gewesen, die als Shakespeares Schwester gelebt hätte? Gleich begabt wie der Bruder, hätte auch sie versucht zu schreiben, wäre von zu Hause durchgebrannt und hätte um 1600 ihr Glück in London an der Bühne versucht. Das Resultat wäre aller Wahrscheinlichkeit nach: Schwangerschaft und Selbstmord. Ihre Werke sind nicht geschrieben worden, resümiert Virgina Woolf über die literarische Erfindung. Shakespeares Schwester, sie läge an der Straßenecke Elephant/Castle begraben, dort wo der Bus hält.
Die Wiedereröffung des Paula Becker-Modersohn Hauses zum Geburtstag der 1907 im Kindbett verstorbenen Malerin gibt ihrem Andenken wenigstens einen würdigeren Platz. Daß an diesem Ort nicht nur die Bilder hängen, sondern auch Vorträge oder Theaterveranstaltungen stattfinden, ist eine erfreuliche Neuerung.
Susanne Raubold
Nächste Vorstellungen: ab 9.12. Do. -Sa. 19.30 Uhr, So. 18 Uhr, Paula-Becker-Modersohn-Haus, Böttcherstraße
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