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Dollarprinzen mit Westklamotten

Das ukrainische Lviv: Muster einer mitteleuropäischen Stadt. Der Kult um das neue Nationalgefühl ist dem Besucher zwar schwer verständlich, der politischen Klasse aber hilfreiches Machtmittel  ■ Von Michael Bienert

Sich in Lviv zurechtzufinden ist nicht leicht. Dabei ist Lviv das Muster einer mitteleuropäischen Stadt. Unterhalb des Schloßbergs, auf dem im Mittelalter eine Burg errichtet wurde, liegt die alte Bürgerstadt, um einen quadratischen Marktplatz gruppiert, mit Handelshäusern, Kirchen, Klöstern und Resten der alten Stadtbefestigung. Die Altstadt wird von weitläufigen Boulevards umschlossen, an denen ein Opernhaus, Bank- und Hotelpaläste stehen, deren sich Wien nicht zu schämen brauchte. Das ganze Ensemble ist wunderbar intakt. Seit der Jahrhundertwende scheint kaum etwas zerstört und neu gebaut worden zu sein.

Doch was nützt die schöne Ordnung, wenn es keine Stadtpläne gibt, die man lesen kann? Die Straßen sind kyrillisch beschriftet, viele mit neuen ukrainischen Namen, die weder mit den polnischen noch mit den russischen Plänen übereinstimmen. Am besten also, man greift gleich zur Wehrmachtskarte aus dem Jahr 1941 – „Nur für den Dienstgebrauch!“ –, wenn man etwa die alte Universitätsbibliothek ausfindig machen will oder den Schulweg des Schriftstellers Stanislaw Lem nachgehen will, so wie er ihn in seinem Erinnerungsbuch „Das Hohe Schloß“ beschrieben hat.

Lemberg, das war bis zum Ersten Weltkrieg die Hauptstadt des Königreichs Galizien und Lodomerien und die östlichste Metropole der Habsburgermonarchie. Danach gehörte sie zu Polen und hieß Lwów, sprich: Lwuf. Als Hitler und Stalin Osteuropa unter sich aufteilten, fiel sie an die Sowjetunion. Wenig später marschierte die Wehrmacht ein, was 150.000 Lemberger Juden, ein Drittel der Bevölkerung, das Leben kostete. Vor drei Jahren wurde aus dem sowjetischen Lwów das ukrainische Lviv. Bis dahin hatte jeder Machtwechsel ethnische Säuberungen, Flucht und Vertreibung zur Folge. So wurde aus der einstigen Vielvölkerstadt eine fast ausschließlich von Ukrainern bewohnte Industriemetropole mit 800.000 Einwohnern. Nur der eindrucksvolle architektonische Rahmen einer multikulturellen Stadt blieb erhalten, eine Kulisse, die von den heutigen Bewohner sorgsam gepflegt, aber nicht wirklich ausgefüllt wird.

Statt der „polyglotten Farbigkeit“, an der sich Joseph Roth Anfang der zwanziger Jahre berauschte, herrscht in ihren Straßen eine blaugraue Monotonie, bedingt durch die ethnische Homogenität und den wirtschaftlichen Mangel. Die Landfrauen, die auf einem ärmlichen Markt Blumen, Obst und Käse teuer verkaufen, unterscheiden sich kaum von den Rentnerinnen aus der Stadt. Die Soldaten stecken noch in den alten sowjetischen Uniformen, lediglich neue Hoheitszeichen hat man ihnen aufgenäht. Dollarprinzen tragen billige Westklamotten zur Schau, Jugendliche ein eisenhartes Gesicht. Man sieht geschminkte Frauen, aber keine Eleganz.

Die Industrieproduktion der Ukraine ist im vergangenen Jahr um ein Drittel gesunken, doch statt Wirtschaftsreformen anzupacken, übt sich die alte Führungsschicht in Devisengeschäften, Schleichhandel und Korruption. Wie die Normalbürger den Verfall der Wirtschaft überleben – das konnten (oder mochten) uns auch die ukrainischen Studenten nicht erklären, die unsere von „Stattreisen Berlin“ nach Lviv verschickte Reisegruppe vor Ort betreuten.

Draußen auf dem Land pflügen die Dörfler von Hand kleine Äcker. Die traditionell sehr engen Familienbande sorgen dafür, daß etwas vom Ertrag auch die Angehörigen in der Stadt erreicht. Aber die Situation verschlechtert sich ständig, besonders für Rentner und Studenten, die ihren ganzen Lebensunterhalt von staatlichen Zahlungen in der Notwährung „Karbowanez“ bestreiten müssen. Es nützt ihnen nichts, daß die bunten Coupons mit pathetischen Motiven aus der National- und Kirchengeschichte bedruckt sind – binnen eines jeden Monats verlieren sie die Hälfte ihrer Kaufkraft.

Auf den Straßen der Innenstadt sind kleine Verkaufsstände aufgebaut, doch die Waage ist oft größer als das Angebot an frischem Obst und Gemüse. Viele Läden stehen leer. Anders am „Freiheitsprospekt“, der in der Habsburger Zeit angelegten Prachtstraße: Dort gibt es alles, was das Herz begehrt, zu herzzerreißenden Preisen. Unter den Österreichern hieß der Boulevard Karl-Ludwig-Straße, in polnischer Zeit Straße der Legionen, danach Adolf-Hitler-Straße und bis vor zwei Jahren Lenin-Prospekt. Das Lenin-Denkmal wurde gestürzt, statt dessen ziert nun ein Denkmal des als ukrainischer Nationaldichter verehrten Taras Schewtschenko die Mitte des Boulevards.

Kunst und Literatur spielen bei der Suche der ukrainischen Republik nach ihrer nationalen Identität eine zentrale Rolle. Doch das tägliche Kulturangebot ist eher armselig. In dem vor Gold und Nacktheit strotzenden Opernhaus sahen wir eine Aufführung in einer antiquierten Dekoration, mit schwachen Darstellern und einem unmotivierten Orchester. Mit größerer Inbrunst singt das Volk in den vielen, vielen Kirchen. Im Prozeß der Selbstvergewisserung über die nationale Identität nimmt die griechisch-katholische Kirche eine Schlüsselstellung ein. Sie war vor dem Zweiten Weltkrieg die Kirche der armen ukrainischen Landbevölkerung, während die polnischen Oberschichten sich zur römisch- katholischen Kirche bekannten. 1946 löste die Sowjetmacht die griechisch-katholische Kirche auf und verschaffte der orthodoxen Gemeinde ein Religionsmonopol. Inzwischen sind die damals enteigneten Kirchengüter an die griechisch-katholische Gemeinde zurückgegeben worden – nicht nur ein Akt der Gerechtigkeit, sondern auch ein politisches Signal, nämlich ein Zeichen für den Bruch mit der Tradition der russischen Okkupanten und des Strebens nach einer ukrainischen Nationalkirche.

Auf unsere Frage, worin denn die spezifisch ukrainische Kultur bestehe, antwortete eine Begleiterin: Es gebe viele Volkslieder, die sehr beliebt seien. So unbefriedigend wie diese Antwort blieb ein Besuch im „Ukrainischen Nationalmuseum“. Dort zeigt man Dutzende von Porträts Taras Schewtschenkos, des „ukrainischen Goethe“, eine Anzahl Ikonen und volkstümliches Kunsthandwerk, um die eigene Tradition zu belegen. Das spezifisch Ukrainische daran konnte uns niemand überzeugend darlegen. So bleibt der Eindruck, daß der Kult um alles Ukrainische, den die reformunfähige politische Klasse verordnet, vor allem eins ist: Opium für das Volk.

Dennoch bedeutet das neue Nationalgefühl einen gewissen Fortschritt gegenüber der kommunistichen Ideologie. Das spüren vor allem die kleinen Reste ethnischer Minderheiten, die sich im ukrainischen Nationalstaat etwas freier entfalten können als unter dem roten Stern. Ausgenommen davon sind die in Lviv lebenden Russen, denen man die frühere Unterdrückung und Ausbeutung der Ukraine durch die Moskauer Zentralmacht nicht verzeiht.

Die letzten Juden von Lviv haben zum ersten Mal Gelegenheit, in angemessener Weise an die Opfer des nationalsozialistischen Völkermords zu erinnern. Einer von ihnen ist Leon Plager, der Vizepräsident des jüdischen Kulturvereins. Er überlebte den Zweiten Weltkrieg als Soldat der Roten Armee. 67 Angehörige hat er im Lemberger Ghetto verloren. Als er nach dem Krieg heimkehrte, gab es keine Gräber. Erst im August 1992 wurde ein großes Denkmal an der Stelle des Ghettos eingeweiht. Herr Plager gehörte zu den Initiatoren und hat Geld im In- und Ausland dafür gesammelt. Doch ohne den politischen Wandel hätte es nicht an dieser Stelle und nicht in dieser Größe entstehen können.

Am Stadtrand von Lemberg liegt die Strafanstalt Janow. Die endlose unverputzte Außenmauer mit der Stacheldrahtkrone weckt schauerliche Assoziationen. An dieser Stelle errichteten die Nazis ein Konzentrationslager, das bis heute als Gefängnis dient. Nebenan lag eine Hinrichtungsstätte, wo zweihunderttausend Menschen aus Lemberg und Umgebung ermordet wurden. In ganz Galizien kamen eineinhalb Millionen Juden auf diese Weise um.

Im Oktober 1993, zum fünfzigsten Jahrestag der Liquidierung der Lagerinsassen, wurde neben der Strafanstalt ein Gedenkstein aufgestellt. Hundegebell schallt von dem scharf bewachten Gefängnis herüber. Am Ufer eines kleinen Flußarms, der sich rot färbte vom Blut der Getöteten, hat sich ein Schrebergärtner eine Datscha gebaut.

Nach dem Krieg, erzählt Herr Plager, hatten sich dreißigtausend Juden in Lviv neu niedergelassen, vor allem ehemalige Soldaten der Roten Armee. In den letzten fünf Jahren sind fünfzehntausend ausgewandert, etwa achttausend Juden leben noch in der Stadt. Sie besitzen seit kurzem ein eigenes Kulturzentrum in einer früheren Synagoge. Das Gebäude diente den Nazis als Pferdestall und zuletzt dem Polygraphischen Institut als „Sportstützpunkt“, sprich: Turnhalle. Die Mittel für die Renovierung und Bestuhlung mußte der jüdische Kulturverein – von einem kleinen Zuschuß der Gemeinde abgesehen – selbst aufbringen. Auf einem kleinen Podium steht ein Klavier für Musikabende. Ein paar Austellungstafeln zeigen Bilder aus dem Lemberger Ghetto. In den Nebenräumen wird Hebräisch unterrichtet.

Auf die Frage, ob es auch in der Ukraine antisemitische Tendenzen gebe wie in Rußland, lacht Herr Plager: „Ein altes Sprichwort sagt, wo ein Jude ist, ist auch ein Antisemit. Früher hatten wir einen staatlich verordneten Antisemitismus, wenigstens das ist jetzt vorbei.“ Daß auch Herr Plager in diesem Sommer einen Ausreiseantrag gestellt hat, hat vor allem wirtschaftliche Gründe. Von seiner Pension allein kann er in der Ukraine nicht überleben. Seine Lebensaufgabe, den Toten Denkmäler zu errichten, hat er erfüllt. Jetzt hält ihn nichts mehr in Lviv.

Einwöchige Bildungsreisen nach Lviv werden mehrmals im Jahr von Stattreisen Berlin e.V. (Malplaquetstraße 5, 13347 Berlin, Tel.: 030-4553028) durchgeführt.

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