Der Staat trägt den Krieg in die Städte

■ Der türkische Publizist Ragip Zarakolu über die Anschläge auf die prokurdische Zeitung "Özgür Ülke", die furchtsamen Intellektuellen und die Perspektiven der Pressefreiheit im türkisch-kurdischen...

In der Nacht zum Samstag zerstörten Bombenanschläge die Reaktionsräume der pro-kurdischen Zeitung „Özgür Ülke“ in Istanbul und Ankara. Ein Mitarbeiter starb, zwanzig weitere wurden verletzt. „Özgür Ülke“ ist die einzige Tageszeitung, die offen über den Krieg der türkischen Armee in Kurdistan berichtet. Den Behörden ist die Zeitung ein Dorn im Auge: Von 162 Ausgaben, die seit der Gründung der „Ülke“ im April als Nachfolge der verbotenen „Özgür Gündem“ erschienen, wurden 158 verboten. Im Istanbuler Gebäude befanden sich auch die Verwaltungsräume des angesehenen linken Belge-Verlages. Der 1977 gegründete Verlag publizierte anfangs linke Klassiker von Gramsci bis Liebknecht. Inzwischen umfaßt das Verlagsprogramm auch Belletristik und zahlreiche Erstübersetzungen ins Türkische. Die Verlegerin, Ayse Nur Zarakolu, ist Auseinandersetzungen mit dem Staat gewohnt. Erst im Mai wurde sie wegen einer Publikation inhaftiert. Ihr Mann, der Publizist Ragip Zarakolu, schreibt für „Özgür Ülke“. Er gehört dem türkischen PEN-Club an und ist auch im Menschenrechtsverein aktiv.

taz: „Özgür Ülke“ ist am Montag erschienen, obwohl die Redaktionsräume völlig zerstört sind. Wie war das möglich?

Ragip Zarakolu: Durch die Solidarität anderer Oppositionszeitungen. Sie haben Plätze zum Schreiben zur Verfügung gestellt. Und die Druckerei, bei der wir drucken lassen, ist nicht zerstört worden.

Wer ist Ihrer Meinung nach für die Anschläge verantwortlich?

Wir glauben, daß die Anschläge von geheim operierenden staatlichen Kräften organisiert wurden. Es gab ja auch schon Anschläge auf Menschenrechtsorganisationen, zum Beispiel in Diyarbakir, und letztes Jahr auf die Zentrale der Demokratie-Partei in Ankara. All das bedeutet, daß die staatliche Seite begonnen hat, den Krieg jetzt auch in die türkischen Großstädte zu tragen.

Was wird das für die Arbeit der Presse bedeuten? Werden die Spielräume noch enger werden?

Es gibt ja jetzt schon ein sogenanntes „Antiterrorgesetz“, das praktisch jede Art oppositioneller Presse unmöglich macht. Dieses Gesetz gibt dem Staat die Möglichkeit, jede Organisation zu verbieten, die in irgendeiner Erklärung mal etwas gesagt hat, was als „Separatismus“ angesehen wird. Und die Auslegung dieses Begriffs ist sehr weit gefaßt: Wenn Sie über Kurdistan arbeiten, oder wenn Sie nur den Begriff „Kurdistan“ benutzen, dann reicht das schon für den Separatismus-Vorwurf.

Unser Verlag kennt das schon zur Genüge. In den vergangenen dreizehn Jahren hat der Staat neunzehn unserer Bücher verboten. Unsere Autoren und auch meine Frau als Verlegerin sind mehrmals verklagt worden. Früher bezog sich das nur auf sozialistische Publikationen, mittlerweile ist die nationale Frage stärker in den Mittelpunkt gerückt, also die sogenannte kurdische Frage.

Als Verlag wollen wir gar nicht nur problematische Bücher herausgeben. Aber wir suchen wichtige Bücher, Bücher, die uns gefallen. Und wir wollen nicht, daß der Staat darüber zu entscheiden hat, was wir veröffentlichen können und was nicht. Wir wollen weder Zensur noch Selbstzensur.

Wie sind denn die Perspektiven?

Die Beispiele des Irak, aber auch Bosniens zeigen der türkischen Regierung, daß sie heute machen kann, was sie will. Es gibt so etwas wie permanente Straffreiheit. In dieser „neuen Weltordnung“ scheint es leider möglich zu sein, in allen Teilen der Welt Massaker und Völkermorde zu begehen. Die Welt hat die Ethik verloren. Und unter anderem die Kurden haben das auszubaden.

Wie verhalten sich denn die türkischen Intellektuellen gegenüber der Repression?

Die meisten Intellektuellen verschließen vor dem kurdischen Problem die Augen. Als Intellektuelle gehören sie der Elite an, und sie fürchten, ihre Position zu verlieren. Wir haben sie nicht für ein stärkeres Engagement in der Menschenrechtsfrage oder in der kurdischen Frage gewinnen können.

Viele setzen ja Hoffnung auf die „Bewegung für neue Demokratie“ des liberalen Unternehmers Cem Boyner ...

Cem Boyner versucht, aus der Sicht der Elite eine Lösung der türkischen Probleme zu finden. Ich bin nicht sicher, ob sie genug Unterstützung bekommen. Es gibt diese Beispiele von jungen Führern mit liberalen Programmen in Lateinamerika oder Südeuropa. Auch die türkische Gesellschaft braucht so etwas, und das ist die Chance von Cem Boyners Bewegung.

Aber ich bezweifle, daß uns diese Alternative wirklich offensteht. Ich fürchte, die Entwicklung geht eher in die Richtung einer autoritären Zivil- oder einer direkten Militärregierung. Interview: Bernd Pickert

Medico International ruft zu Spenden für den Wiederaufbau von „Özgür Ülke“ auf:

Postgiro Köln (BLZ 370 100 50)

Kto.-Nr. 6999-508

Stichwort: „Özgür Ülke“