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Zu schnelles Vergessen

Fünf Jahre nach der samtenen Revolution in der Tschechoslowakei wollen sich viele nicht mehr an ihre damaligen Hoffnungen erinnern  ■ Von Tomas Niederberghaus

„Jesus Maria“, sagt die Sekretärin, „so eine Frage hat mir schon lange niemand mehr gestellt.“ Nachdenklich schaut sie auf die rote Straßenbahn, die vor dem Gebäude der Prager Film- und Fotoakademie die Moldau entlangfährt. Von hier zogen vor fünf Jahren, am 17. November 1989, rund 20.000 StudentInnen Richtung Wenzelsplatz, hier begann die „samtene Revolution“. Natürlich, so die Sekretärin weiter, habe sie damals schon hier gearbeitet. Und natürlich erinnere sie sich an das Tohuwabohu in den Tagen und Wochen des demokratischen Umsturzes. Doch die Namen der studentischen Galionsfiguren aus dem Jahre 1989, nein, die habe sie vergessen. Das Ganze sei schließlich verdammt lang her.

Der zweite Versuch ist erfolgreicher. Der Student am anderen Ende der Leitung kann sich an die Namen und Adressen der StudentenführerInnen erinnern, als läge die Revolution gerade mal ein paar Monate zurück. „Martin Mejstřik und Šimon Panek waren aktiv“, sagt er, „dann können Sie noch die Anna Pilatová oder die Monika Pajerová anrufen. Aber passen Sie auf: Die Revolution hat ihre Kinder gespalten. Es gibt Idealisten und Karrieristen. An einem Strang ziehen sie nicht mehr.“

Einer der Idealisten ist Šimon Panek. Als vor fünf Jahren die Bilder der flackernden Kerzen, leuchtenden Blumen und erhobenen Transparente um die Welt gingen, war er stets zu sehen. Ganz vorne, mit Václav Havel und Alexander Dubček, ganz oben, auf dem Balkon am Wenzelsplatz, von dem damals die Reden gehalten wurden. „Damals haben wir erledigt, was die Zeit erforderte“, sagt er, „darauf bin ich schon stolz.“ Heute sitzt Šimon in einem düsteren Flachbau, im Schatten der monströsen, sozialistischen Platte des tschechischen Fernsehens. Erschütternde Schwarzweißfotografien aus Bosnien hängen an den Wänden: Panisch aufgerissene Kinderaugen, Opfer auf der Flucht. Das ist Šimon Paneks Arbeit: Er ist Direktor der vom tschechischen Fernsehen gegründeten Stiftung „Menschen in Not“. „Wir bringen Hilfe in Krisengebiete“, sagt Šimon, „gleichzeitig versuchen wir unsere Bevölkerung zur Solidarität zu mobilisieren. Wo auch immer Not herrscht – die ganze Welt muß Verantwortung dafür übernehmen.“ Mehr als 1,5 Millionen US- Dollar haben er und seine Mitarbeiter in den letzten zwölf Monaten für Bosnien gesammelt.

Šimon Panek ist, wie er selbst sagt, ein „Optimist“. Wenn er seine Arbeit mit Worten wie „humanistischer Aktivismus“ und „Verantwortung“ charakterisiert, wird man das Gefühl nicht los, er spreche von der Revolution 89: Die Studentendemo war gewaltsam beendet worden, in der tschechoslowakischen Bevölkerung löste dies einen unerwarteten Proteststurm aus. Mit den „Regieanweisungen“ für die sich anschließenden Massendemos, die nicht mehr von den StudentInnen, sondern bereits von Havels Bürgerforum gegeben wurden, kann sich Šimon heute noch identifizieren. Nichts würde er anders machen. Von einer „gestohlenen Revolution“ möchte er schon gar nicht sprechen. Der Begriff kam wenige Wochen nach dem 17. November auf, als ein Teil der StudentInnen die Ansicht vertrat, bei der Wende seien zu wenig Köpfe alter Kader gerollt. „Selbst unter uns Studenten waren Kollaborateure, auch sie konnten den Sieg der Freiheit nicht verhindern“, sagt Šimon. Und heutigen Kritikern begegnet er mit dem Hinweis, daß der Niedergang des Bolschewismus freie Menschen, aber keine besseren Bürger hervorgebracht hat. Korruption und Kriminalität habe es früher wie heute gegeben.

Ein etwas anderes Bild der Bewertung der Revolution zeigen die Ergebnisse der im Juni dieses Jahres veröffentlichten Umfrage des Zentrums für Empirische Studien (STEM). Danach ist die Begeisterung über die politische Wende schon lange vorbei. Die Veränderungen werden sehr kritisch gesehen: Über 40 Prozent der Befragten sind der Meinung, daß das gegenwärtige System genauso oder sogar schlechter ist als das frühere. Etwa 45 Prozent glauben, daß die Entwicklung in der Gesellschaft ihre persönlichen Erwartungen von 1989 nicht eingelöst hat.

Zeugen derartige Aussagen nicht vor allem davon, daß die 1989 von den Revolutionären geweckten Träume von diesen nicht erfüllt werden konnten? Šimon grinst. „Nein“, sagt er, „wir haben Freiheit, die Wahrung der Menschenrechte und eine liberale Wirtschaft versprochen. Nicht mehr.“ Doch inzwischen gebe es für ihn keinen Grund mehr, in die Vergangenheit zu schauen.

Dies gilt auch für die Mehrheit der TschechInnen. In diesen Wochen der Wende brennen am Wenzelsplatz oder in der Nationalstraße nur wenige Kerzen der Erinnerung. Die Geschichte scheint vom Winde verweht, sieht man von wenigen Veranstaltungen einmal ab. Und auch diese gingen nicht selten am eigentlichen Thema vorbei: So hatte sich Ministerpräsident Václav Klaus am „Revolutionstag“, dem 17. November, ausgerechnet mit führenden Wirtschaftsvertretern getroffen. Daher blieb es wieder einmal Václav Havel überlassen, an die „höhere“ Bedeutung des Systemwechsels zu erinnern. Im Wladislavsaal der Prager Burg klagte er – mit deutlicher Anspielung auf die monetaristische Politik des Ministerpräsidenten – die „spirituelle Dimension des Lebens“ ein. Die tschechische Republik werde „vom Westen mit dummer Werbung und noch dümmeren Soap- operas“ überrollt. Im Land an der Moldau reife die Zeit der „Fachidioten“, die politischen Parteien benähmen sich wie „Monopolisten“ und setzten „ihre Wahrheit über alles“. Eine Rede, die von den rund 1.000 geladenen StudentInnen aus dem ganzen Land mit stürmischem Beifall bedacht wurde.

Doch auch andere Intellektuelle kritisieren in diesen Wochen der Wende den Premier schärfer als sonst. „Klaus und seine Kohorte mögen nicht so arrogant sein wie die Mitglieder des alten Regimes“, schreibt ein Kommentator der Lidové noviny, „doch sie sind zu arrogant, sich als wahre demokratische Führer zu qualifizieren.“ An der Moldau kursiert bereits der Begriff der „Klausonomie“ – tschechischer Thatcherismus!

Anna Pilatová sieht das ähnlich. Die Freiheit, sagt sie, werde inzwischen vom Kapital gesteuert, doch das sei immer noch viel besser als der Kommunismus. Vor der Revolution hat sie Biochemie studiert. Eigentlich wollte sie Philosophie belegen. Aus ideologischen Gründen hatte das Regime ihre Mutter – die Familie ist jüdisch – vom Dienst suspendiert. Somit beschäftigt sich Anna erst seit 1990 an der Karlsuni mit den Lehren Kants, Hegels und Wittgensteins. „Es war ein Leben in einer artifiziellen Welt, in einem zeitlosen Raum“, erinnert sich Anna, „der November 89 hat Kraft und schlaflose Nächte gekostet. Wäre die Revolution gescheitert, hätte ich alles getan, das Land zu verlassen.“

Wie die meisten StudentInnen in Tschechien wohnt sie noch mit ihrer Familie zusammen: in einer Wohnung, in der Bücher die Wände tapezieren. Das Studium finanziert sich die wortgewandte Pragerin mit dem Übersetzen von Aufsätzen und Reden. Fünf Sprachen beherrscht sie perfekt. Ein wenig bedauert sie das weitgehende Fehlen der Dissidenten im öffentlichen Leben. Sieht sie die Ursache darin, daß die Bevölkerung nicht von Dissidenten regiert werden möchte, weil diese sie an die eigene Kollaboration mit dem alten System erinnern? „Ich glaube nicht“, sagt Anna, „viele derjenigen, die die Revolution gemacht haben, waren noch schrecklich unreif, und auch heute noch sind sie zum Teil weit davon entfernt, gute Politiker zu werden.“

Um die Studenten ist es still geworden. Resümee eines Unterzeichners der Charta 77: „Drei Jahre nach der Revolution war ich erstaunt zu sehen, daß die einzige studentische Organisation ein konservativer Club war. Karriere zu machen sei für die Mehrheit heute das wichtigste. Und schließlich stünden ihnen auch alle Wege offen. Es ist die erste Generation, die mehrere westliche Sprachen lernt, die erste, die Ökonomie und nicht Marxismus-Leninismus studieren kann.

Doch nicht alle beschäftigen sich nur mit der Zukunft. Martin Mejštrik schaut zurück. „Pamet“ – Erinnerungen, heißen seine Gedanken zur Revolution. Ein Papier über erlebte (Ent-)Täuschungen. Archive hat er durchstöbert. Sämtliche Veröffentlichungen über die junge Geschichte hat er gewälzt. Sein Fazit: Viele Informationen sind halbwahr oder falsch. Selbst in einer Diplomarbeit der Akademie der Künste sei der Zusammenbruch des realsozialistischen Systems schluderig abgehandelt worden. Schlimmer noch: „Nicht einmal die Archivtapes der ehemaligen studentischen Presseagentur sind zu finden.“ Auch das tschechische Fernsehen habe aus Mangel an leeren Bändern einen Teil der November-Kassetten überspielt. Aus diesem Grund will Martin eine Stiftung ins Leben rufen: ein Zentrum, das sich ausschließlich mit den Ereignissen des Jahres 1989 beschäftigt. Denn, so seine Warnung: „Wir vergessen Freunde, wir vergessen ... und ohne seriöse Archive bleiben wir von allem und jedem manipulierbar.“

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