: Betteln ohne Stab Von Mathias Bröckers
Almosen zu geben und die Armen zu unterstützen gehört in allen Kulturen und Gesellschaften zu den moralischen Standards, in Not Geratenen zu helfen ist eine menschliche Selbstverständlichkeit. Je mehr Menschen aber keinen anderen Ausweg mehr haben, als ihren Lebensunterhalt durch Almosen zu bestreiten, desto schwieriger wird es, der Pflicht zum Almosengeben nachzukommen. Wenn sich beim Auslösen des Markstücks aus der Supermarktkarre gleich drei Bedürftige in Bewegung setzen, wenn die Aufgänge zur U-Bahn von armseligen Gestalten gesäumt sind, wenn im Café alle halbe Stunde ein anderer notleidender Musikant aufspielt und den Hut herumgehen läßt – wem soll der gute Mensch, bei dieser Auswahl von Bedürftigkeit, sein Scherflein gerechterweise in die Hand drücken? Alle und jeden zu bedienen geht beim besten Willen nicht: Wer in Berlin mit vollem Geldbeutel aus dem Hause geht und wirklich offenen, mitleidenden Herzens ist, wird sein Ziel erst sehr spät und in jedem Fall ohne eine müde Mark erreichen – nur mit einem gerüttelt Maß „sozialer Kälte“ läßt sich vermeiden, von den Wogen der neuen Armut selbst in die Armut gerissen zu werden.
Die zunehmende Menge von BettlerInnen bedeutet für die Gebenden nicht nur die Qual der Wahl und die Schwierigkeit, zwischen purer Not und grassierendem Schnorrertum zu unterscheiden, sie bedeutet vor allem einen wachsenden Konkurrenzdruck in der almosenheischenden Branche. Nur die Hand aufhalten reicht einfach nicht mehr, wenn die „Konkurrenz“, wie unlängst ein ganzkörper-tätowierter Obdachloser in der Linie1, den Fahrgästen sein offenes Bein vorzeigt und „für die Operation“ Geld eintreibt. Was hat der „klassische“ halbblinde Almosenbedürftige am Bahnhof noch an Spenden zu erwarten, wenn die Fahrgäste zuvor von Station zu Station mit neuen Leidens- und Elends-Performances konfrontiert wurden? Wie groß die Not ist, zeigen die „Erfindungen“: von der Obdachlosenzeitung über die in einer halben Minute präsentierte Aids- und Krankheitsgeschichte bis zur Futterspende für den abgemagerten Hund. Wie tief unten muß jemand sein, der sich aufrafft, einen vollbesetzten U-Bahnwagen lautstark mit seiner Leidensgeschichte zu traktieren? Wer kann zwei sechsjährigen Sinti- Kindern widerstehen, die mit der Quetschkommode nur einmal kurz Lärm machen und dann „eine Mark, eine Mark“ verlangen? Haben sich nicht wenigstens Kinder noch mit Groschen zufriedenzugeben, oder ist gerade diese „Minimal-Art“ mindestens 10 Mark wert, weil sie die Sache schmerzlos auf den Punkt bringt?
Wenn all die Säcke, die in Bonn und anderswo vom „Mißbrauch sozialer Leistungen“ schwadronieren, zwangsweise eine Woche lang mit U- und S-Bahn durch diese Stadt fahren müßten, wären sie vermutlich ein für allemal kuriert – und würden künftig eher Subventionsschwindler und Steuerbetrüger ganz oben ausquetschen, statt den Armen ganz unten in die Tasche zu greifen. „Das Volk hungert, weil seine Oberen zuviel Abgaben verzehren“, heißt es im Tao Te King, 400 v.Chr., und, dem heutigen Finanzminister ins Stammbuch geschrieben: „Je mehr er den Menschen gibt, desto viel mehr hat er.“
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